Ramdohr, Basilius von: Venus Urania. Ueber die Natur der Liebe, über ihre Veredlung und Verschönerung. Erster Theil: Naturkunde der Liebe. Leipzig, 1798.von einem Weibe heftig in dasselbe verliebt, Jahre lang um die entfernte Geliebte trauert, und nun nach endlich gelungener Vereinigung sich wieder von ihr zu trennen sucht, um sich an dem Bilde seines Gehirns zu freuen; - und vergleicht mit ihm das liebende Mädchen, das in dem Bilde seiner glücklichen Nebenbuhlerin nur die Wohlthäterin des Geliebten erblickt. - Wird ein unbefangener Beobachter in diesen Beyspielen den Unterschied zwischen Selbstheit und Uneigennützigkeit verkennen? Unstreitig haben jener Epaminondas und dieser gemeine Soldat, jener Diogenes und dieser Aristides, jener Begeisterte und dieses wirklich liebende Mädchen das Bewußtseyn eines Ich's gehabt, das einen Zustand von Lust oder Unlust an sich wahrgenommen hat. Unstreitig haben alle diese Personen Triebe gehegt, deren Beleidigung oder Begünstigung sie in ihrem Willen bestimmte: die gleichsam die Trompen oder Fühlhörner ausmachten, woran sie den Reitz zur Lust oder Unlust empfingen, und die zwischen ihrem Ich und den Gegenständen, die sie reitzten, in der Mitte lagen. Diese Triebe machten ihr Selbst aus. Aber fühlt ihr nicht, daß es ganz etwas anders sey, ein solches Selbst annehmen zu müssen, es nach geendigter Reitzung und Bestimmung unsers Willens ausfinden zu können; oder es während des Affekts deutlich zu beachten, erst durch Beziehung des begünstigten Triebes auf den Zustand und das Wohl unserer Person, zum Wollen oder Nichtwollen bestimmt zu werden? Epaminondas findet seine Ruhmbegierde befriedigt, und dadurch seinen persönlichen Zustand verbessert; - nun verläßt er gern sein Vaterland und seine Freunde, die ihm nur zu Mitteln dienten, seine Hauptleidenschaft zu begünstigen. von einem Weibe heftig in dasselbe verliebt, Jahre lang um die entfernte Geliebte trauert, und nun nach endlich gelungener Vereinigung sich wieder von ihr zu trennen sucht, um sich an dem Bilde seines Gehirns zu freuen; – und vergleicht mit ihm das liebende Mädchen, das in dem Bilde seiner glücklichen Nebenbuhlerin nur die Wohlthäterin des Geliebten erblickt. – Wird ein unbefangener Beobachter in diesen Beyspielen den Unterschied zwischen Selbstheit und Uneigennützigkeit verkennen? Unstreitig haben jener Epaminondas und dieser gemeine Soldat, jener Diogenes und dieser Aristides, jener Begeisterte und dieses wirklich liebende Mädchen das Bewußtseyn eines Ich’s gehabt, das einen Zustand von Lust oder Unlust an sich wahrgenommen hat. Unstreitig haben alle diese Personen Triebe gehegt, deren Beleidigung oder Begünstigung sie in ihrem Willen bestimmte: die gleichsam die Trompen oder Fühlhörner ausmachten, woran sie den Reitz zur Lust oder Unlust empfingen, und die zwischen ihrem Ich und den Gegenständen, die sie reitzten, in der Mitte lagen. Diese Triebe machten ihr Selbst aus. Aber fühlt ihr nicht, daß es ganz etwas anders sey, ein solches Selbst annehmen zu müssen, es nach geendigter Reitzung und Bestimmung unsers Willens ausfinden zu können; oder es während des Affekts deutlich zu beachten, erst durch Beziehung des begünstigten Triebes auf den Zustand und das Wohl unserer Person, zum Wollen oder Nichtwollen bestimmt zu werden? Epaminondas findet seine Ruhmbegierde befriedigt, und dadurch seinen persönlichen Zustand verbessert; – nun verläßt er gern sein Vaterland und seine Freunde, die ihm nur zu Mitteln dienten, seine Hauptleidenschaft zu begünstigen. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0064" n="64"/> von einem Weibe heftig in dasselbe verliebt, Jahre lang um die entfernte Geliebte trauert, und nun nach endlich gelungener Vereinigung sich wieder von ihr zu trennen sucht, um sich an dem Bilde seines Gehirns zu freuen; – und vergleicht mit ihm das liebende Mädchen, das in dem Bilde seiner glücklichen Nebenbuhlerin nur die Wohlthäterin des Geliebten erblickt. – Wird ein unbefangener Beobachter in diesen Beyspielen den Unterschied zwischen Selbstheit und Uneigennützigkeit verkennen?</p> <p>Unstreitig haben jener Epaminondas und dieser gemeine Soldat, jener Diogenes und dieser Aristides, jener Begeisterte und dieses wirklich liebende Mädchen das Bewußtseyn eines <hi rendition="#g">Ich’s</hi> gehabt, das einen Zustand von Lust oder Unlust an sich wahrgenommen hat. Unstreitig haben alle diese Personen Triebe gehegt, deren Beleidigung oder Begünstigung sie in ihrem Willen bestimmte: die gleichsam die Trompen oder Fühlhörner ausmachten, woran sie den Reitz zur Lust oder Unlust empfingen, und die zwischen ihrem <hi rendition="#g">Ich</hi> und den <hi rendition="#g">Gegenständen, die sie reitzten</hi>, in der Mitte lagen. Diese Triebe machten ihr Selbst aus.</p> <p>Aber fühlt ihr nicht, daß es ganz etwas anders sey, ein solches Selbst annehmen zu müssen, es nach geendigter Reitzung und Bestimmung unsers Willens ausfinden zu können; oder es während des Affekts deutlich zu beachten, erst durch Beziehung des begünstigten Triebes auf den Zustand und das Wohl unserer Person, zum Wollen oder Nichtwollen bestimmt zu werden? Epaminondas findet seine Ruhmbegierde befriedigt, und dadurch seinen persönlichen Zustand verbessert; – nun verläßt er gern sein Vaterland und seine Freunde, die ihm nur zu Mitteln dienten, seine Hauptleidenschaft zu begünstigen. </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [64/0064]
von einem Weibe heftig in dasselbe verliebt, Jahre lang um die entfernte Geliebte trauert, und nun nach endlich gelungener Vereinigung sich wieder von ihr zu trennen sucht, um sich an dem Bilde seines Gehirns zu freuen; – und vergleicht mit ihm das liebende Mädchen, das in dem Bilde seiner glücklichen Nebenbuhlerin nur die Wohlthäterin des Geliebten erblickt. – Wird ein unbefangener Beobachter in diesen Beyspielen den Unterschied zwischen Selbstheit und Uneigennützigkeit verkennen?
Unstreitig haben jener Epaminondas und dieser gemeine Soldat, jener Diogenes und dieser Aristides, jener Begeisterte und dieses wirklich liebende Mädchen das Bewußtseyn eines Ich’s gehabt, das einen Zustand von Lust oder Unlust an sich wahrgenommen hat. Unstreitig haben alle diese Personen Triebe gehegt, deren Beleidigung oder Begünstigung sie in ihrem Willen bestimmte: die gleichsam die Trompen oder Fühlhörner ausmachten, woran sie den Reitz zur Lust oder Unlust empfingen, und die zwischen ihrem Ich und den Gegenständen, die sie reitzten, in der Mitte lagen. Diese Triebe machten ihr Selbst aus.
Aber fühlt ihr nicht, daß es ganz etwas anders sey, ein solches Selbst annehmen zu müssen, es nach geendigter Reitzung und Bestimmung unsers Willens ausfinden zu können; oder es während des Affekts deutlich zu beachten, erst durch Beziehung des begünstigten Triebes auf den Zustand und das Wohl unserer Person, zum Wollen oder Nichtwollen bestimmt zu werden? Epaminondas findet seine Ruhmbegierde befriedigt, und dadurch seinen persönlichen Zustand verbessert; – nun verläßt er gern sein Vaterland und seine Freunde, die ihm nur zu Mitteln dienten, seine Hauptleidenschaft zu begünstigen.
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