Ramdohr, Basilius von: Venus Urania. Ueber die Natur der Liebe, über ihre Veredlung und Verschönerung. Zweyter Theil: Aesthetik der Liebe. Leipzig, 1798.der Mensch, der sich der Geliebten zuletzt genähert hat, ist ein Auserwählter, der des Anblicks einer Gottheit theilhaftig wurde! das Gewand, das sie abgelegt hat, ist die Relique einer Heiligen. Die Locke von ihrem Haupte ist ein Theil ihres Wesens; das Licht das sie umscheint, die Luft die sie einathmet, das Zimmer, die Stadt die sie umgeben, die Wege die dahin führen, alles das sind Theile von ihrem Selbst! Nach dem Grade der Annäherung zu der Person der Geliebten mißt der Liebende alle Formen. Ist er mit ihr unter einem Dache, so fühlt er sich glücklicher, als wenn nur die nehmlichen Stadtmauern ihn mit ihr umschließen, und muß er auch aus diesen weichen, so fängt die ganze Schreckniß der Einöde erst da an, wo er die Thurmspitze ihres Wohnorts aus dem Gesichte verliert. Was liegt dabey zum Grunde? Was anders, als daß die Liebenden sich besitzen, die sinnlichste Ueberzeugung empfinden wollen, daß ihr ganzes Wesen, daß alle ihre Verhältnisse möglichst vereinigt sind! Wo dieser Trieb nach physischer Gegenwart, dieser Geschmack an Symbolisierung der geliebten Person bey den entferntesten Veranlassungen nicht vorhanden sind, da ist auch keine warme Zärtlichkeit, und am wenigsten leidenschaftliche Liebe vorhanden. Diese suchen ihren Gegenstand auf, auch da, wo sie sicher sind ihn nicht zu finden. Wer vor der Wohnung der Geliebten, die sie längst verlassen hat, vorbeygehen kann, ohne einen Blick, ohne einen Seufzer nach den öden Fenstern hinauf zu schicken, der liebt nicht die Person, der liebt nur das Verhältniß, worin er mit ihr steht. Rousseau läßt seine Julie ausrufen: welch ein trauriger Zufluchtsort für zwey Liebende, der einer der Mensch, der sich der Geliebten zuletzt genähert hat, ist ein Auserwählter, der des Anblicks einer Gottheit theilhaftig wurde! das Gewand, das sie abgelegt hat, ist die Relique einer Heiligen. Die Locke von ihrem Haupte ist ein Theil ihres Wesens; das Licht das sie umscheint, die Luft die sie einathmet, das Zimmer, die Stadt die sie umgeben, die Wege die dahin führen, alles das sind Theile von ihrem Selbst! Nach dem Grade der Annäherung zu der Person der Geliebten mißt der Liebende alle Formen. Ist er mit ihr unter einem Dache, so fühlt er sich glücklicher, als wenn nur die nehmlichen Stadtmauern ihn mit ihr umschließen, und muß er auch aus diesen weichen, so fängt die ganze Schreckniß der Einöde erst da an, wo er die Thurmspitze ihres Wohnorts aus dem Gesichte verliert. Was liegt dabey zum Grunde? Was anders, als daß die Liebenden sich besitzen, die sinnlichste Ueberzeugung empfinden wollen, daß ihr ganzes Wesen, daß alle ihre Verhältnisse möglichst vereinigt sind! Wo dieser Trieb nach physischer Gegenwart, dieser Geschmack an Symbolisierung der geliebten Person bey den entferntesten Veranlassungen nicht vorhanden sind, da ist auch keine warme Zärtlichkeit, und am wenigsten leidenschaftliche Liebe vorhanden. Diese suchen ihren Gegenstand auf, auch da, wo sie sicher sind ihn nicht zu finden. Wer vor der Wohnung der Geliebten, die sie längst verlassen hat, vorbeygehen kann, ohne einen Blick, ohne einen Seufzer nach den öden Fenstern hinauf zu schicken, der liebt nicht die Person, der liebt nur das Verhältniß, worin er mit ihr steht. Rousseau läßt seine Julie ausrufen: welch ein trauriger Zufluchtsort für zwey Liebende, der einer <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0272" n="272"/> der Mensch, der sich der Geliebten zuletzt genähert hat, ist ein Auserwählter, der des Anblicks einer Gottheit theilhaftig wurde! das Gewand, das sie abgelegt hat, ist die Relique einer Heiligen. Die Locke von ihrem Haupte ist ein Theil ihres Wesens; das Licht das sie umscheint, die Luft die sie einathmet, das Zimmer, die Stadt die sie umgeben, die Wege die dahin führen, alles das sind Theile von ihrem Selbst! Nach dem Grade der Annäherung zu der Person der Geliebten mißt der Liebende alle Formen. Ist er mit ihr unter einem Dache, so fühlt er sich glücklicher, als wenn nur die nehmlichen Stadtmauern ihn mit ihr umschließen, und muß er auch aus diesen weichen, so fängt die ganze Schreckniß der Einöde erst da an, wo er die Thurmspitze ihres Wohnorts aus dem Gesichte verliert. Was liegt dabey zum Grunde? Was anders, als daß die Liebenden sich besitzen, die sinnlichste Ueberzeugung empfinden wollen, daß ihr ganzes Wesen, daß alle ihre Verhältnisse möglichst vereinigt sind!</p> <p>Wo dieser Trieb nach physischer Gegenwart, dieser Geschmack an Symbolisierung der geliebten Person bey den entferntesten Veranlassungen nicht vorhanden sind, da ist auch keine warme Zärtlichkeit, und am wenigsten leidenschaftliche Liebe vorhanden. Diese suchen ihren Gegenstand auf, auch da, wo sie sicher sind ihn nicht zu finden. Wer vor der Wohnung der Geliebten, die sie längst verlassen hat, vorbeygehen kann, ohne einen Blick, ohne einen Seufzer nach den öden Fenstern hinauf zu schicken, der liebt nicht die Person, der liebt nur das Verhältniß, worin er mit ihr steht.</p> <p>Rousseau läßt seine Julie ausrufen: welch ein trauriger Zufluchtsort für zwey Liebende, der einer </p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [272/0272]
der Mensch, der sich der Geliebten zuletzt genähert hat, ist ein Auserwählter, der des Anblicks einer Gottheit theilhaftig wurde! das Gewand, das sie abgelegt hat, ist die Relique einer Heiligen. Die Locke von ihrem Haupte ist ein Theil ihres Wesens; das Licht das sie umscheint, die Luft die sie einathmet, das Zimmer, die Stadt die sie umgeben, die Wege die dahin führen, alles das sind Theile von ihrem Selbst! Nach dem Grade der Annäherung zu der Person der Geliebten mißt der Liebende alle Formen. Ist er mit ihr unter einem Dache, so fühlt er sich glücklicher, als wenn nur die nehmlichen Stadtmauern ihn mit ihr umschließen, und muß er auch aus diesen weichen, so fängt die ganze Schreckniß der Einöde erst da an, wo er die Thurmspitze ihres Wohnorts aus dem Gesichte verliert. Was liegt dabey zum Grunde? Was anders, als daß die Liebenden sich besitzen, die sinnlichste Ueberzeugung empfinden wollen, daß ihr ganzes Wesen, daß alle ihre Verhältnisse möglichst vereinigt sind!
Wo dieser Trieb nach physischer Gegenwart, dieser Geschmack an Symbolisierung der geliebten Person bey den entferntesten Veranlassungen nicht vorhanden sind, da ist auch keine warme Zärtlichkeit, und am wenigsten leidenschaftliche Liebe vorhanden. Diese suchen ihren Gegenstand auf, auch da, wo sie sicher sind ihn nicht zu finden. Wer vor der Wohnung der Geliebten, die sie längst verlassen hat, vorbeygehen kann, ohne einen Blick, ohne einen Seufzer nach den öden Fenstern hinauf zu schicken, der liebt nicht die Person, der liebt nur das Verhältniß, worin er mit ihr steht.
Rousseau läßt seine Julie ausrufen: welch ein trauriger Zufluchtsort für zwey Liebende, der einer
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Wikisource: Bereitstellung der Texttranskription und Auszeichnung in Wikisource-Syntax.
(2012-11-20T10:30:31Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme aus Wikisource entsprechen muss.
Wikimedia Commons: Bereitstellung der Bilddigitalisate
(2012-11-20T10:30:31Z)
Frank Wiegand: Konvertierung von Wikisource-Markup nach XML/TEI gemäß DTA-Basisformat.
(2012-11-20T10:30:31Z)
Weitere Informationen:Anmerkungen zur Transkription:
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |