Ramdohr, Basilius von: Venus Urania. Ueber die Natur der Liebe, über ihre Veredlung und Verschönerung. Dritten Theils erste Abtheilung: Aeltere Geschichte der Geschlechtsverbindung und Liebe. Leipzig, 1798.Um dieß erklärbar zu finden, muß man sich an dasjenige erinnern, was ich oben 3) von den Begriffen der Athenienser über Tugend und Vortrefflichkeit gesagt habe. Nur diejenigen Schwächen und Laster, die mit den Pflichten des Bürgers gegen den Staat im unmittelbaren Widerspruche standen, waren ein Gegenstand des Verbots und der Strafe der Gesetze. Ein Archont, der im Rausche mit den Zeichen seiner Würde erschien, sollte diese Vernachlässigung des Anstandes, die der Führung öffentlicher Angelegenheiten nachtheilig werden konnte, mit dem Tode büßen. Ein Bürger, dessen Sitten so verdorben waren, daß er die Rüge der öffentlichen Meinung auf sich zog, verlor die Rechte des aktiven Bürgers. Aber die Ausgelassenheit der körperlichen Geschlechtssympathie, die kein Aufsehn machte, und die Rechte des Eigenthums und der Freyheit des Bürgers nicht kränkte, ward wie die Stillung eines physischen Bedürfnisses, als eine Quelle sinnlicher Freuden angesehen, die an sich eben so gleichgültig sey, als jeder andere wollüstige Reitz für die übrigen Sinne. In dieser Nachsicht kam denn die gute Sitte mit dem Gesetze ziemlich überein. Es ist der Mühe werth, die Schauspiele des Aristophanes durchzublättern. Welcher Schmutz! Welche Beleidigung aller Schamhaftigkeit! Es ist gewiß, daß selbst der niedrigste Pöbel bey uns die Vorstellungen dieser Schauspiele mit Steinwürfen würde unterbrochen haben. So häufig sind darin die Anspielungen auf Lüste, an die wir ohne Abscheu nicht erinnert werden können. Nach den Mythen war den Göttern selbst eine völlige Ausgelassenheit der Begierden eigen. Die Tragiker spielten ungescheut in ihren Schauspielen auf 3) Vierzehntes Buch Kap. I.
Um dieß erklärbar zu finden, muß man sich an dasjenige erinnern, was ich oben 3) von den Begriffen der Athenienser über Tugend und Vortrefflichkeit gesagt habe. Nur diejenigen Schwächen und Laster, die mit den Pflichten des Bürgers gegen den Staat im unmittelbaren Widerspruche standen, waren ein Gegenstand des Verbots und der Strafe der Gesetze. Ein Archont, der im Rausche mit den Zeichen seiner Würde erschien, sollte diese Vernachlässigung des Anstandes, die der Führung öffentlicher Angelegenheiten nachtheilig werden konnte, mit dem Tode büßen. Ein Bürger, dessen Sitten so verdorben waren, daß er die Rüge der öffentlichen Meinung auf sich zog, verlor die Rechte des aktiven Bürgers. Aber die Ausgelassenheit der körperlichen Geschlechtssympathie, die kein Aufsehn machte, und die Rechte des Eigenthums und der Freyheit des Bürgers nicht kränkte, ward wie die Stillung eines physischen Bedürfnisses, als eine Quelle sinnlicher Freuden angesehen, die an sich eben so gleichgültig sey, als jeder andere wollüstige Reitz für die übrigen Sinne. In dieser Nachsicht kam denn die gute Sitte mit dem Gesetze ziemlich überein. Es ist der Mühe werth, die Schauspiele des Aristophanes durchzublättern. Welcher Schmutz! Welche Beleidigung aller Schamhaftigkeit! Es ist gewiß, daß selbst der niedrigste Pöbel bey uns die Vorstellungen dieser Schauspiele mit Steinwürfen würde unterbrochen haben. So häufig sind darin die Anspielungen auf Lüste, an die wir ohne Abscheu nicht erinnert werden können. Nach den Mythen war den Göttern selbst eine völlige Ausgelassenheit der Begierden eigen. Die Tragiker spielten ungescheut in ihren Schauspielen auf 3) Vierzehntes Buch Kap. I.
<TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0140" n="140"/> <p>Um dieß erklärbar zu finden, muß man sich an dasjenige erinnern, was ich oben <note place="foot" n="3)">Vierzehntes Buch Kap. I.</note> von den Begriffen der Athenienser über Tugend und Vortrefflichkeit gesagt habe. Nur diejenigen Schwächen und Laster, die mit den Pflichten des Bürgers gegen den Staat im unmittelbaren Widerspruche standen, waren ein Gegenstand des Verbots und der Strafe der Gesetze. Ein Archont, der im Rausche mit den Zeichen seiner Würde erschien, sollte diese Vernachlässigung des Anstandes, die der Führung öffentlicher Angelegenheiten nachtheilig werden konnte, mit dem Tode büßen. Ein Bürger, dessen Sitten so verdorben waren, daß er die Rüge der öffentlichen Meinung auf sich zog, verlor die Rechte des aktiven Bürgers. Aber die Ausgelassenheit der körperlichen Geschlechtssympathie, die kein Aufsehn machte, und die Rechte des Eigenthums und der Freyheit des Bürgers nicht kränkte, ward wie die Stillung eines physischen Bedürfnisses, als eine Quelle sinnlicher Freuden angesehen, die an sich eben so gleichgültig sey, als jeder andere wollüstige Reitz für die übrigen Sinne.</p> <p>In dieser Nachsicht kam denn die gute Sitte mit dem Gesetze ziemlich überein. Es ist der Mühe werth, die Schauspiele des Aristophanes durchzublättern. Welcher Schmutz! Welche Beleidigung aller Schamhaftigkeit! Es ist gewiß, daß selbst der niedrigste Pöbel bey uns die Vorstellungen dieser Schauspiele mit Steinwürfen würde unterbrochen haben. So häufig sind darin die Anspielungen auf Lüste, an die wir ohne Abscheu nicht erinnert werden können. Nach den Mythen war den Göttern selbst eine völlige Ausgelassenheit der Begierden eigen. Die Tragiker spielten ungescheut in ihren Schauspielen auf </p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [140/0140]
Um dieß erklärbar zu finden, muß man sich an dasjenige erinnern, was ich oben 3) von den Begriffen der Athenienser über Tugend und Vortrefflichkeit gesagt habe. Nur diejenigen Schwächen und Laster, die mit den Pflichten des Bürgers gegen den Staat im unmittelbaren Widerspruche standen, waren ein Gegenstand des Verbots und der Strafe der Gesetze. Ein Archont, der im Rausche mit den Zeichen seiner Würde erschien, sollte diese Vernachlässigung des Anstandes, die der Führung öffentlicher Angelegenheiten nachtheilig werden konnte, mit dem Tode büßen. Ein Bürger, dessen Sitten so verdorben waren, daß er die Rüge der öffentlichen Meinung auf sich zog, verlor die Rechte des aktiven Bürgers. Aber die Ausgelassenheit der körperlichen Geschlechtssympathie, die kein Aufsehn machte, und die Rechte des Eigenthums und der Freyheit des Bürgers nicht kränkte, ward wie die Stillung eines physischen Bedürfnisses, als eine Quelle sinnlicher Freuden angesehen, die an sich eben so gleichgültig sey, als jeder andere wollüstige Reitz für die übrigen Sinne.
In dieser Nachsicht kam denn die gute Sitte mit dem Gesetze ziemlich überein. Es ist der Mühe werth, die Schauspiele des Aristophanes durchzublättern. Welcher Schmutz! Welche Beleidigung aller Schamhaftigkeit! Es ist gewiß, daß selbst der niedrigste Pöbel bey uns die Vorstellungen dieser Schauspiele mit Steinwürfen würde unterbrochen haben. So häufig sind darin die Anspielungen auf Lüste, an die wir ohne Abscheu nicht erinnert werden können. Nach den Mythen war den Göttern selbst eine völlige Ausgelassenheit der Begierden eigen. Die Tragiker spielten ungescheut in ihren Schauspielen auf
3) Vierzehntes Buch Kap. I.
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Wikisource: Bereitstellung der Texttranskription und Auszeichnung in Wikisource-Syntax.
(2012-11-20T10:30:31Z)
Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme aus Wikisource entsprechen muss.
Wikimedia Commons: Bereitstellung der Bilddigitalisate
(2012-11-20T10:30:31Z)
Frank Wiegand: Konvertierung von Wikisource-Markup nach XML/TEI gemäß DTA-Basisformat.
(2012-11-20T10:30:31Z)
Weitere Informationen:Anmerkungen zur Transkription:
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |