Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Ramdohr, Basilius von: Venus Urania. Ueber die Natur der Liebe, über ihre Veredlung und Verschönerung. Dritten Theils erste Abtheilung: Aeltere Geschichte der Geschlechtsverbindung und Liebe. Leipzig, 1798.

Bild:
<< vorherige Seite
Zehntes Kapitel.

Tibull.

Tibull besaß nicht bloß ein Herz; er besaß ein Herz für wahre Liebe geschaffen. Bey ihm strömt der Wunsch nach Vereinigung immer zugleich mit dem Bestreben nach dem Wohl des Geliebten hervor. Unter allen römischen Elegikern ist er der einzige, bey dem sich dieß Gefühl in allen Aeußerungen harmonisch darstellt, und auch darin ist er einzig, daß er Ahnungen von einer zärtlichen Anhänglichkeit hatte, die auch dann bestehen und fortdauern könnte, wenn sie nicht erwiedert, und durch wirklich gelungene Vereinigung nicht begünstigt würde.

Zur moralischen Veredlung der Liebe hat sich Tibull jedoch nicht hinaufgehoben. Die Wahl seiner Geliebten machte ihm entweder wenig Ehre, oder ward wenigstens durch die innere Vortrefflichkeit der Personen nicht gerechtfertigt. Nirgends finden wir eine Spur, daß er ihr Herz und ihren Geist zu bilden, in Tugend mit ihnen zusammenzutreffen, und ihr Wohl durch Zuführung des höchsten Guts zu befördern gesucht hätte. Auch der kühne Schwung der Phantasie, mittelst dessen wir der Vereinigung auf ungewöhnlichen Wegen nachstreben, in übersinnlichen Regionen mit dem Geiste des geliebten Gegenstandes Vereinigung suchen, und dadurch Bilder des Großen und Außerordentlichen hervorzaubern, war nicht in Tibulls Charakter. Er war weder ein Xenophon, noch ein Plato, noch ein Rousseau. Er kannte Begeisterung; aber es war die üppige, schmelzende, hinschmachtende, die mehr mit der Sympathie,

Zehntes Kapitel.

Tibull.

Tibull besaß nicht bloß ein Herz; er besaß ein Herz für wahre Liebe geschaffen. Bey ihm strömt der Wunsch nach Vereinigung immer zugleich mit dem Bestreben nach dem Wohl des Geliebten hervor. Unter allen römischen Elegikern ist er der einzige, bey dem sich dieß Gefühl in allen Aeußerungen harmonisch darstellt, und auch darin ist er einzig, daß er Ahnungen von einer zärtlichen Anhänglichkeit hatte, die auch dann bestehen und fortdauern könnte, wenn sie nicht erwiedert, und durch wirklich gelungene Vereinigung nicht begünstigt würde.

Zur moralischen Veredlung der Liebe hat sich Tibull jedoch nicht hinaufgehoben. Die Wahl seiner Geliebten machte ihm entweder wenig Ehre, oder ward wenigstens durch die innere Vortrefflichkeit der Personen nicht gerechtfertigt. Nirgends finden wir eine Spur, daß er ihr Herz und ihren Geist zu bilden, in Tugend mit ihnen zusammenzutreffen, und ihr Wohl durch Zuführung des höchsten Guts zu befördern gesucht hätte. Auch der kühne Schwung der Phantasie, mittelst dessen wir der Vereinigung auf ungewöhnlichen Wegen nachstreben, in übersinnlichen Regionen mit dem Geiste des geliebten Gegenstandes Vereinigung suchen, und dadurch Bilder des Großen und Außerordentlichen hervorzaubern, war nicht in Tibulls Charakter. Er war weder ein Xenophon, noch ein Plato, noch ein Rousseau. Er kannte Begeisterung; aber es war die üppige, schmelzende, hinschmachtende, die mehr mit der Sympathie,

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <pb facs="#f0317" n="317"/>
        <div n="2">
          <head>Zehntes Kapitel.<lb/></head>
          <argument>
            <p>Tibull.<lb/></p>
          </argument>
          <p>Tibull besaß nicht bloß ein Herz; er besaß ein Herz für wahre Liebe geschaffen. Bey ihm strömt der Wunsch nach Vereinigung immer zugleich mit dem Bestreben nach dem Wohl des Geliebten hervor. Unter allen römischen Elegikern ist er der einzige, bey dem sich dieß Gefühl in allen Aeußerungen harmonisch darstellt, und auch darin ist er einzig, daß er Ahnungen von einer zärtlichen Anhänglichkeit hatte, die auch dann bestehen und fortdauern könnte, wenn sie nicht erwiedert, und durch wirklich gelungene Vereinigung nicht begünstigt würde.</p>
          <p>Zur moralischen Veredlung der Liebe hat sich Tibull jedoch nicht hinaufgehoben. Die Wahl seiner Geliebten machte ihm entweder wenig Ehre, oder ward wenigstens durch die innere Vortrefflichkeit der Personen nicht gerechtfertigt. Nirgends finden wir eine Spur, daß er ihr Herz und ihren Geist zu bilden, in Tugend mit ihnen zusammenzutreffen, und ihr Wohl durch Zuführung des höchsten Guts zu befördern gesucht hätte. Auch der kühne Schwung der Phantasie, mittelst dessen wir der Vereinigung auf ungewöhnlichen Wegen nachstreben, in übersinnlichen Regionen mit dem Geiste des geliebten Gegenstandes Vereinigung suchen, und dadurch Bilder des Großen und Außerordentlichen hervorzaubern, war nicht in Tibulls Charakter. Er war weder ein Xenophon, noch ein Plato, noch ein Rousseau. Er kannte Begeisterung; aber es war die üppige, schmelzende, hinschmachtende, die mehr mit der Sympathie,
</p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[317/0317] Zehntes Kapitel. Tibull. Tibull besaß nicht bloß ein Herz; er besaß ein Herz für wahre Liebe geschaffen. Bey ihm strömt der Wunsch nach Vereinigung immer zugleich mit dem Bestreben nach dem Wohl des Geliebten hervor. Unter allen römischen Elegikern ist er der einzige, bey dem sich dieß Gefühl in allen Aeußerungen harmonisch darstellt, und auch darin ist er einzig, daß er Ahnungen von einer zärtlichen Anhänglichkeit hatte, die auch dann bestehen und fortdauern könnte, wenn sie nicht erwiedert, und durch wirklich gelungene Vereinigung nicht begünstigt würde. Zur moralischen Veredlung der Liebe hat sich Tibull jedoch nicht hinaufgehoben. Die Wahl seiner Geliebten machte ihm entweder wenig Ehre, oder ward wenigstens durch die innere Vortrefflichkeit der Personen nicht gerechtfertigt. Nirgends finden wir eine Spur, daß er ihr Herz und ihren Geist zu bilden, in Tugend mit ihnen zusammenzutreffen, und ihr Wohl durch Zuführung des höchsten Guts zu befördern gesucht hätte. Auch der kühne Schwung der Phantasie, mittelst dessen wir der Vereinigung auf ungewöhnlichen Wegen nachstreben, in übersinnlichen Regionen mit dem Geiste des geliebten Gegenstandes Vereinigung suchen, und dadurch Bilder des Großen und Außerordentlichen hervorzaubern, war nicht in Tibulls Charakter. Er war weder ein Xenophon, noch ein Plato, noch ein Rousseau. Er kannte Begeisterung; aber es war die üppige, schmelzende, hinschmachtende, die mehr mit der Sympathie,

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Wikisource: Bereitstellung der Texttranskription und Auszeichnung in Wikisource-Syntax. (2012-11-20T10:30:31Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme aus Wikisource entsprechen muss.
Wikimedia Commons: Bereitstellung der Bilddigitalisate (2012-11-20T10:30:31Z)
Frank Wiegand: Konvertierung von Wikisource-Markup nach XML/TEI gemäß DTA-Basisformat. (2012-11-20T10:30:31Z)

Weitere Informationen:

Anmerkungen zur Transkription:

  • Als Grundlage dienen die Wikisource:Editionsrichtlinien.
  • Der Seitenwechsel erfolgt bei Worttrennung nach dem gesamten Wort.
  • Geviertstriche (—) wurden durch Halbgeviertstriche ersetzt (–).
  • Übergeschriebenes „e“ über „a“, „o“ und „u“ wird als moderner Umlaut (ä, ö, ü) transkribiert.



Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/ramdohr_venus0301_1798
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/ramdohr_venus0301_1798/317
Zitationshilfe: Ramdohr, Basilius von: Venus Urania. Ueber die Natur der Liebe, über ihre Veredlung und Verschönerung. Dritten Theils erste Abtheilung: Aeltere Geschichte der Geschlechtsverbindung und Liebe. Leipzig, 1798, S. 317. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ramdohr_venus0301_1798/317>, abgerufen am 21.11.2024.