Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Ramdohr, Basilius von: Venus Urania. Ueber die Natur der Liebe, über ihre Veredlung und Verschönerung. Dritten Theils erste Abtheilung: Aeltere Geschichte der Geschlechtsverbindung und Liebe. Leipzig, 1798.

Bild:
<< vorherige Seite

Die Geschichte dieses Herzens muß aber in zwey Perioden eingetheilt werden: in diejenige, worin er an der Delia und Nemesis, den Weibern zweyer Freygelaßnen, gehangen, und in einer andern entehrenden Verbindung gestanden hat: dann in diejenige, worin er sich um die Hand und das Herz der Neära beworben hat. 7) Ob diese beyden Perioden auf einander gefolgt sind, oder ob er erst die Delia, dann die Neära, und endlich wieder die Nemesis geliebt habe; darüber läßt sich nichts mit Gewißheit bestimmen, und nach dem Gange des menschlichen Herzens zu urtheilen, ist das eine ungefehr so glaublich als das andere. Man kann fallen, steigen und stehen bleiben: man kann auch wieder, aus einer edeln Leidenschaft, vorzüglich wenn man betrogen wird, in vorige Verirrungen zurückfallen.

Ich sehe die Verhältnisse, worin Tibull mit der Delia und Nemesis gestanden hat, als den minder edeln Theil der Geschichte seines Herzens an. Daß auch der zärtlichste Mensch nicht damit anfängt, sich durch solche Gründe in seiner Wahl bestimmen zu lassen, die seine Anhänglichkeit rechtfertigen: daß gemeiniglich Sinne, Eitelkeit, Leere, Trieb nach engerer häuslicher Verbindung, kurz! Geschlechtssympathie des Körpers und der Seele dem Herzen erst den Weg

7) Ich setze nicht den mindesten Zweifel darein, daß Tibull diese Neära wirklich geliebt habe, obgleich Ovid nur von der Delia und Nemesis redet, und diese letzte sagen läßt, daß sie bey seinem Tode noch sein Herz besessen habe. Die Antwort ist: daß der Dichter zu seinem Drama nur diese Beyden brauchte. Und ohnehin sagt Ovid selbst, daß er den Tibull nicht genau gekannt habe.

Die Geschichte dieses Herzens muß aber in zwey Perioden eingetheilt werden: in diejenige, worin er an der Delia und Nemesis, den Weibern zweyer Freygelaßnen, gehangen, und in einer andern entehrenden Verbindung gestanden hat: dann in diejenige, worin er sich um die Hand und das Herz der Neära beworben hat. 7) Ob diese beyden Perioden auf einander gefolgt sind, oder ob er erst die Delia, dann die Neära, und endlich wieder die Nemesis geliebt habe; darüber läßt sich nichts mit Gewißheit bestimmen, und nach dem Gange des menschlichen Herzens zu urtheilen, ist das eine ungefehr so glaublich als das andere. Man kann fallen, steigen und stehen bleiben: man kann auch wieder, aus einer edeln Leidenschaft, vorzüglich wenn man betrogen wird, in vorige Verirrungen zurückfallen.

Ich sehe die Verhältnisse, worin Tibull mit der Delia und Nemesis gestanden hat, als den minder edeln Theil der Geschichte seines Herzens an. Daß auch der zärtlichste Mensch nicht damit anfängt, sich durch solche Gründe in seiner Wahl bestimmen zu lassen, die seine Anhänglichkeit rechtfertigen: daß gemeiniglich Sinne, Eitelkeit, Leere, Trieb nach engerer häuslicher Verbindung, kurz! Geschlechtssympathie des Körpers und der Seele dem Herzen erst den Weg

7) Ich setze nicht den mindesten Zweifel darein, daß Tibull diese Neära wirklich geliebt habe, obgleich Ovid nur von der Delia und Nemesis redet, und diese letzte sagen läßt, daß sie bey seinem Tode noch sein Herz besessen habe. Die Antwort ist: daß der Dichter zu seinem Drama nur diese Beyden brauchte. Und ohnehin sagt Ovid selbst, daß er den Tibull nicht genau gekannt habe.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0319" n="319"/>
          <p>Die Geschichte dieses Herzens muß aber in zwey Perioden eingetheilt werden: in diejenige, worin er an der Delia und Nemesis, den Weibern zweyer Freygelaßnen, gehangen, und in einer andern entehrenden Verbindung gestanden hat: dann in diejenige, worin er sich um die Hand und das Herz der Neära beworben hat. <note place="foot" n="7)">Ich setze nicht den mindesten Zweifel darein, daß Tibull diese Neära wirklich geliebt habe, obgleich Ovid nur von der Delia und Nemesis redet, und diese letzte sagen läßt, daß sie bey seinem Tode noch sein Herz besessen habe. Die Antwort ist: daß der Dichter zu seinem Drama nur diese Beyden brauchte. Und ohnehin sagt Ovid selbst, daß er den Tibull nicht genau gekannt habe.</note> Ob diese beyden Perioden auf einander gefolgt sind, oder ob er erst die Delia, dann die Neära, und endlich wieder die Nemesis geliebt habe; darüber läßt sich nichts mit Gewißheit bestimmen, und nach dem Gange des menschlichen Herzens zu urtheilen, ist das eine ungefehr so glaublich als das andere. Man kann fallen, steigen und stehen bleiben: man kann auch wieder, aus einer edeln Leidenschaft, vorzüglich wenn man betrogen wird, in vorige Verirrungen zurückfallen.</p>
          <p>Ich sehe die Verhältnisse, worin Tibull mit der Delia und Nemesis gestanden hat, als den minder edeln Theil der Geschichte seines Herzens an. Daß auch der zärtlichste Mensch nicht damit anfängt, sich durch solche Gründe in seiner Wahl bestimmen zu lassen, die seine Anhänglichkeit rechtfertigen: daß gemeiniglich Sinne, Eitelkeit, Leere, Trieb nach engerer häuslicher Verbindung, kurz! Geschlechtssympathie des Körpers und der Seele dem Herzen erst den Weg
</p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[319/0319] Die Geschichte dieses Herzens muß aber in zwey Perioden eingetheilt werden: in diejenige, worin er an der Delia und Nemesis, den Weibern zweyer Freygelaßnen, gehangen, und in einer andern entehrenden Verbindung gestanden hat: dann in diejenige, worin er sich um die Hand und das Herz der Neära beworben hat. 7) Ob diese beyden Perioden auf einander gefolgt sind, oder ob er erst die Delia, dann die Neära, und endlich wieder die Nemesis geliebt habe; darüber läßt sich nichts mit Gewißheit bestimmen, und nach dem Gange des menschlichen Herzens zu urtheilen, ist das eine ungefehr so glaublich als das andere. Man kann fallen, steigen und stehen bleiben: man kann auch wieder, aus einer edeln Leidenschaft, vorzüglich wenn man betrogen wird, in vorige Verirrungen zurückfallen. Ich sehe die Verhältnisse, worin Tibull mit der Delia und Nemesis gestanden hat, als den minder edeln Theil der Geschichte seines Herzens an. Daß auch der zärtlichste Mensch nicht damit anfängt, sich durch solche Gründe in seiner Wahl bestimmen zu lassen, die seine Anhänglichkeit rechtfertigen: daß gemeiniglich Sinne, Eitelkeit, Leere, Trieb nach engerer häuslicher Verbindung, kurz! Geschlechtssympathie des Körpers und der Seele dem Herzen erst den Weg 7) Ich setze nicht den mindesten Zweifel darein, daß Tibull diese Neära wirklich geliebt habe, obgleich Ovid nur von der Delia und Nemesis redet, und diese letzte sagen läßt, daß sie bey seinem Tode noch sein Herz besessen habe. Die Antwort ist: daß der Dichter zu seinem Drama nur diese Beyden brauchte. Und ohnehin sagt Ovid selbst, daß er den Tibull nicht genau gekannt habe.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Wikisource: Bereitstellung der Texttranskription und Auszeichnung in Wikisource-Syntax. (2012-11-20T10:30:31Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme aus Wikisource entsprechen muss.
Wikimedia Commons: Bereitstellung der Bilddigitalisate (2012-11-20T10:30:31Z)
Frank Wiegand: Konvertierung von Wikisource-Markup nach XML/TEI gemäß DTA-Basisformat. (2012-11-20T10:30:31Z)

Weitere Informationen:

Anmerkungen zur Transkription:

  • Als Grundlage dienen die Wikisource:Editionsrichtlinien.
  • Der Seitenwechsel erfolgt bei Worttrennung nach dem gesamten Wort.
  • Geviertstriche (—) wurden durch Halbgeviertstriche ersetzt (–).
  • Übergeschriebenes „e“ über „a“, „o“ und „u“ wird als moderner Umlaut (ä, ö, ü) transkribiert.



Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/ramdohr_venus0301_1798
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/ramdohr_venus0301_1798/319
Zitationshilfe: Ramdohr, Basilius von: Venus Urania. Ueber die Natur der Liebe, über ihre Veredlung und Verschönerung. Dritten Theils erste Abtheilung: Aeltere Geschichte der Geschlechtsverbindung und Liebe. Leipzig, 1798, S. 319. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ramdohr_venus0301_1798/319>, abgerufen am 21.11.2024.