Ramdohr, Basilius von: Venus Urania. Ueber die Natur der Liebe, über ihre Veredlung und Verschönerung. Dritten Theils erste Abtheilung: Aeltere Geschichte der Geschlechtsverbindung und Liebe. Leipzig, 1798.Kinder hingen an ihren Kleidern und weinten. Sie hob eines nach dem andern auf, und drückte diese, die sie nun bald verlassen sollte, an ihre Brust. Alle Sklaven irrten im Hause umher, und weinten Thränen des Mitleids. Sie rief jeden beym Nahmen, und reichte jedem die Hand. Da war keiner ihr zu gering, mit dem sie nicht gesprochen, den sie nicht zur letzten Rede gelassen hätte. Ohne Alcesten wäre Admet gestorben; aber er versinkt in Schmerz: Nie wird er ihrer vergessen!" - "Gewiß", antwortet das Chor, "der Verlust einer so vollkommenen Gattin verdient seine lauten Klagen!" So schildert Euripides den Charakter seiner Heldin! Noch einen Zug läßt er von einem ihrer Sklaven weiter unten hinzusetzen: "Sie war", sagt er, "unser aller Mutter, nicht unsere Gebieterin. Wie wußte sie durch ihr kluges, zärtliches Betragen die Heftigkeit ihres Gemahls zu mäßigen, und unsern Zustand zu erleichtern!" In der That! Roußeau hat seine Julie nicht schöner dargestellt, als unser Dichter seine Alceste! Auch läßt ihr das Chor vollkommen Gerechtigkeit widerfahren. "Wir würden dich verachten", sagt es zum Admet, "wenn du eine andere Gattin wieder heirathen könntest. O Götter! gebt mir ein Weib wie dieses, mit dem ich meine Tage verleben könne!" Zwar erkennt das Chor, daß dieser Vorzug ein Loos sey, das nur selten Sterblichen zu Theil wird. "Inzwischen ist Admet doch nicht der erste noch der letzte der Sterblichen, die ein tugendhaftes Weib verlieren, und nur solche Ehen sind, wie Pheres sagt, zu billigen: andere haben keinen Werth!" Kinder hingen an ihren Kleidern und weinten. Sie hob eines nach dem andern auf, und drückte diese, die sie nun bald verlassen sollte, an ihre Brust. Alle Sklaven irrten im Hause umher, und weinten Thränen des Mitleids. Sie rief jeden beym Nahmen, und reichte jedem die Hand. Da war keiner ihr zu gering, mit dem sie nicht gesprochen, den sie nicht zur letzten Rede gelassen hätte. Ohne Alcesten wäre Admet gestorben; aber er versinkt in Schmerz: Nie wird er ihrer vergessen!“ – „Gewiß“, antwortet das Chor, „der Verlust einer so vollkommenen Gattin verdient seine lauten Klagen!“ So schildert Euripides den Charakter seiner Heldin! Noch einen Zug läßt er von einem ihrer Sklaven weiter unten hinzusetzen: „Sie war“, sagt er, „unser aller Mutter, nicht unsere Gebieterin. Wie wußte sie durch ihr kluges, zärtliches Betragen die Heftigkeit ihres Gemahls zu mäßigen, und unsern Zustand zu erleichtern!“ In der That! Roußeau hat seine Julie nicht schöner dargestellt, als unser Dichter seine Alceste! Auch läßt ihr das Chor vollkommen Gerechtigkeit widerfahren. „Wir würden dich verachten“, sagt es zum Admet, „wenn du eine andere Gattin wieder heirathen könntest. O Götter! gebt mir ein Weib wie dieses, mit dem ich meine Tage verleben könne!“ Zwar erkennt das Chor, daß dieser Vorzug ein Loos sey, das nur selten Sterblichen zu Theil wird. „Inzwischen ist Admet doch nicht der erste noch der letzte der Sterblichen, die ein tugendhaftes Weib verlieren, und nur solche Ehen sind, wie Pheres sagt, zu billigen: andere haben keinen Werth!“ <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0074" n="74"/> Kinder hingen an ihren Kleidern und weinten. Sie hob eines nach dem andern auf, und drückte diese, die sie <choice><sic>nur</sic><corr>nun</corr></choice> bald verlassen sollte, an ihre Brust. Alle Sklaven irrten im Hause umher, und weinten Thränen des Mitleids. Sie rief jeden beym Nahmen, und reichte jedem die Hand. Da war keiner ihr zu gering, mit dem sie nicht gesprochen, den sie nicht zur letzten Rede gelassen hätte. Ohne Alcesten wäre Admet gestorben; aber er versinkt in Schmerz: Nie wird er ihrer vergessen!“ – „Gewiß“, antwortet das Chor, „der Verlust einer so vollkommenen Gattin verdient seine lauten Klagen!“</p> <p>So schildert Euripides den Charakter seiner Heldin! Noch einen Zug läßt er von einem ihrer Sklaven weiter unten hinzusetzen: „Sie war“, sagt er, „unser aller Mutter, nicht unsere Gebieterin. Wie wußte sie durch ihr kluges, zärtliches Betragen die Heftigkeit ihres Gemahls zu mäßigen, und unsern Zustand zu erleichtern!“ In der That! Roußeau hat seine Julie nicht schöner dargestellt, als unser Dichter seine Alceste!</p> <p>Auch läßt ihr das Chor vollkommen Gerechtigkeit widerfahren. „Wir würden dich verachten“, sagt es zum Admet, „wenn du eine andere Gattin wieder heirathen könntest. O Götter! gebt mir ein Weib wie dieses, mit dem ich meine Tage verleben könne!“ Zwar erkennt das Chor, daß dieser Vorzug ein Loos sey, das nur selten Sterblichen zu Theil wird. „Inzwischen ist Admet doch nicht der erste noch der letzte der Sterblichen, die ein tugendhaftes Weib verlieren, und nur solche Ehen sind, wie Pheres sagt, zu billigen: andere haben keinen Werth!“</p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [74/0074]
Kinder hingen an ihren Kleidern und weinten. Sie hob eines nach dem andern auf, und drückte diese, die sie nun bald verlassen sollte, an ihre Brust. Alle Sklaven irrten im Hause umher, und weinten Thränen des Mitleids. Sie rief jeden beym Nahmen, und reichte jedem die Hand. Da war keiner ihr zu gering, mit dem sie nicht gesprochen, den sie nicht zur letzten Rede gelassen hätte. Ohne Alcesten wäre Admet gestorben; aber er versinkt in Schmerz: Nie wird er ihrer vergessen!“ – „Gewiß“, antwortet das Chor, „der Verlust einer so vollkommenen Gattin verdient seine lauten Klagen!“
So schildert Euripides den Charakter seiner Heldin! Noch einen Zug läßt er von einem ihrer Sklaven weiter unten hinzusetzen: „Sie war“, sagt er, „unser aller Mutter, nicht unsere Gebieterin. Wie wußte sie durch ihr kluges, zärtliches Betragen die Heftigkeit ihres Gemahls zu mäßigen, und unsern Zustand zu erleichtern!“ In der That! Roußeau hat seine Julie nicht schöner dargestellt, als unser Dichter seine Alceste!
Auch läßt ihr das Chor vollkommen Gerechtigkeit widerfahren. „Wir würden dich verachten“, sagt es zum Admet, „wenn du eine andere Gattin wieder heirathen könntest. O Götter! gebt mir ein Weib wie dieses, mit dem ich meine Tage verleben könne!“ Zwar erkennt das Chor, daß dieser Vorzug ein Loos sey, das nur selten Sterblichen zu Theil wird. „Inzwischen ist Admet doch nicht der erste noch der letzte der Sterblichen, die ein tugendhaftes Weib verlieren, und nur solche Ehen sind, wie Pheres sagt, zu billigen: andere haben keinen Werth!“
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