Ramdohr, Basilius von: Venus Urania. Ueber die Natur der Liebe, über ihre Veredlung und Verschönerung. Dritten Theils zweyte Abtheilung: Neuere Geschichte der Geschlechtsverbindung und Liebe. Leipzig, 1798.jeder etwas größere Ort macht darauf Anspruch, sich seinen Ton selbst anzugeben, und die Politur hat so sehr zugenommen, daß man kaum die Seite zu finden weiß, an der das Unterscheidende in den Gewohnheiten einer Gesellschaft von der andern aufgefaßt werden könnte. Ohne es mir anzumaßen, die herrschende Denkungsart unserer Zeiten zu bestimmen, will ich die Hauptbegriffe und Behandlungsarten der Geschlechtsverbindungen und der Liebe angeben, und mich dabey theils an die Darstellungen unserer schönen Litteratur, theils an die Ideen unserer Philosophen, theils an meine eigenen Bemerkungen über die Sitten meiner Zeit halten. Da die Quellen, welche ich nutzte, größtentheils bekannt sind, so werde ich mich im Ganzen kurz fassen können, und nur da etwas länger verweilen, wo ich dem Bekannten eine neue Ansicht geben zu müssen geglaubt habe. Die südlichen Nationen des kultivierten Europa scheinen von den nördlichen abgesondert werden zu müssen. Zwar haben die Sitten von Versailles und Paris überall hin, folglich auch über Spanien und Italien, ihren Einfluß verbreitet; inzwischen ist dieser in den zuletzt genannten Ländern weniger merklich, und diese hängen fortwährend stärker an den Sitten der vorigen Periode. Die Regierung Ludwigs des Vierzehnten macht unstreitig in der Geschichte unserer geselligen Gebräuche Epoche, und ihre Wirkungen werden sich wahrscheinlich über die, noch zur Zeit unzuberechnenden, Folgen der französischen Revolution hinerstrecken. Ich habe jeder etwas größere Ort macht darauf Anspruch, sich seinen Ton selbst anzugeben, und die Politur hat so sehr zugenommen, daß man kaum die Seite zu finden weiß, an der das Unterscheidende in den Gewohnheiten einer Gesellschaft von der andern aufgefaßt werden könnte. Ohne es mir anzumaßen, die herrschende Denkungsart unserer Zeiten zu bestimmen, will ich die Hauptbegriffe und Behandlungsarten der Geschlechtsverbindungen und der Liebe angeben, und mich dabey theils an die Darstellungen unserer schönen Litteratur, theils an die Ideen unserer Philosophen, theils an meine eigenen Bemerkungen über die Sitten meiner Zeit halten. Da die Quellen, welche ich nutzte, größtentheils bekannt sind, so werde ich mich im Ganzen kurz fassen können, und nur da etwas länger verweilen, wo ich dem Bekannten eine neue Ansicht geben zu müssen geglaubt habe. Die südlichen Nationen des kultivierten Europa scheinen von den nördlichen abgesondert werden zu müssen. Zwar haben die Sitten von Versailles und Paris überall hin, folglich auch über Spanien und Italien, ihren Einfluß verbreitet; inzwischen ist dieser in den zuletzt genannten Ländern weniger merklich, und diese hängen fortwährend stärker an den Sitten der vorigen Periode. Die Regierung Ludwigs des Vierzehnten macht unstreitig in der Geschichte unserer geselligen Gebräuche Epoche, und ihre Wirkungen werden sich wahrscheinlich über die, noch zur Zeit unzuberechnenden, Folgen der französischen Revolution hinerstrecken. Ich habe <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0269" n="269"/> jeder etwas größere Ort macht darauf Anspruch, sich seinen Ton selbst anzugeben, und die Politur hat so sehr zugenommen, daß man kaum die Seite zu finden weiß, an der das Unterscheidende in den Gewohnheiten einer Gesellschaft von der andern aufgefaßt werden könnte.</p> <p>Ohne es mir anzumaßen, die herrschende Denkungsart unserer Zeiten zu bestimmen, will ich die Hauptbegriffe und Behandlungsarten der Geschlechtsverbindungen und der Liebe angeben, und mich dabey theils an die Darstellungen unserer schönen Litteratur, theils an die Ideen unserer Philosophen, theils an meine eigenen Bemerkungen über die Sitten meiner Zeit halten.</p> <p>Da die Quellen, welche ich nutzte, größtentheils bekannt sind, so werde ich mich im Ganzen kurz fassen können, und nur da etwas länger verweilen, wo ich dem Bekannten eine neue Ansicht geben zu müssen geglaubt habe.</p> <p>Die südlichen Nationen des kultivierten Europa scheinen von den nördlichen abgesondert werden zu müssen. Zwar haben die Sitten von Versailles und Paris überall hin, folglich auch über Spanien und Italien, ihren Einfluß verbreitet; inzwischen ist dieser in den zuletzt genannten Ländern weniger merklich, und diese hängen fortwährend stärker an den Sitten der vorigen Periode.</p> <p>Die Regierung Ludwigs des Vierzehnten macht unstreitig in der Geschichte unserer geselligen Gebräuche Epoche, und ihre Wirkungen werden sich wahrscheinlich über die, noch zur Zeit unzuberechnenden, Folgen der französischen Revolution hinerstrecken. Ich habe </p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [269/0269]
jeder etwas größere Ort macht darauf Anspruch, sich seinen Ton selbst anzugeben, und die Politur hat so sehr zugenommen, daß man kaum die Seite zu finden weiß, an der das Unterscheidende in den Gewohnheiten einer Gesellschaft von der andern aufgefaßt werden könnte.
Ohne es mir anzumaßen, die herrschende Denkungsart unserer Zeiten zu bestimmen, will ich die Hauptbegriffe und Behandlungsarten der Geschlechtsverbindungen und der Liebe angeben, und mich dabey theils an die Darstellungen unserer schönen Litteratur, theils an die Ideen unserer Philosophen, theils an meine eigenen Bemerkungen über die Sitten meiner Zeit halten.
Da die Quellen, welche ich nutzte, größtentheils bekannt sind, so werde ich mich im Ganzen kurz fassen können, und nur da etwas länger verweilen, wo ich dem Bekannten eine neue Ansicht geben zu müssen geglaubt habe.
Die südlichen Nationen des kultivierten Europa scheinen von den nördlichen abgesondert werden zu müssen. Zwar haben die Sitten von Versailles und Paris überall hin, folglich auch über Spanien und Italien, ihren Einfluß verbreitet; inzwischen ist dieser in den zuletzt genannten Ländern weniger merklich, und diese hängen fortwährend stärker an den Sitten der vorigen Periode.
Die Regierung Ludwigs des Vierzehnten macht unstreitig in der Geschichte unserer geselligen Gebräuche Epoche, und ihre Wirkungen werden sich wahrscheinlich über die, noch zur Zeit unzuberechnenden, Folgen der französischen Revolution hinerstrecken. Ich habe
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