Ramdohr, Basilius von: Venus Urania. Ueber die Natur der Liebe, über ihre Veredlung und Verschönerung. Dritten Theils zweyte Abtheilung: Neuere Geschichte der Geschlechtsverbindung und Liebe. Leipzig, 1798.Die Menschen wachsen mit den Ideen auf, daß ein unschuldiger näherer Umgang zwischen den verschiedenen Geschlechtern Statt finden könne. Es ist unglaublich, wie sehr sich die Sinne nach einer solchen Ueberzeugung gewöhnen, und ungerührt bey Gelegenheiten bleiben, welche für Menschen, deren Begriffe über Sittlichkeit und Anstand eine andre Richtung erhalten haben, einen sehr verführerischen Reitz erwecken würden. In verschiedenen kleinen Republiken der Schweitz und an mehreren Orten in Deutschland werden junge unverheirathete Personen von beyden Geschlechtern, sogar Verlobte, frey von aller Aufsicht der Aeltern und Vorgesetzten, bey den Lustbarkeiten gelassen, die sie unter sich anstellen, ohne daß die Ausgelassenheit der Sitten dadurch befördert würde. Es scheint, daß im Moralischen wie im Physischen die Idee von Gefährlichkeit, welche man mit gewissen Lagen verbindet, die Gefahr vergrößert. Oft geht derjenige unversehrt am Rande des Abgrunds vorüber, der gewiß hineingestürzt wäre, wenn man ihn durch den Zuruf, daß er fallen könnte, schwankend in seinem Tritte gemacht hätte. Freylich giebt es schlechte Menschen, die das Zutrauen des Publikums mißbrauchen; aber diese entscheiden nichts für den größern Haufen. Die Gelegenheit, sich täglich, und mit so vieler Freyheit zu sehen, spannt die Imagination weit weniger, und reitzt dadurch viel minder die Sinne, als wenn Hindernisse und Trennung sie in beständiger Unruhe erhielten. Die Gewohnheit der Italiäner, nie die Thüren zu verschließen, die Bedienten immer im Vorzimmer zu haben, die langen Tage, die Ohrenbeichte, Die Menschen wachsen mit den Ideen auf, daß ein unschuldiger näherer Umgang zwischen den verschiedenen Geschlechtern Statt finden könne. Es ist unglaublich, wie sehr sich die Sinne nach einer solchen Ueberzeugung gewöhnen, und ungerührt bey Gelegenheiten bleiben, welche für Menschen, deren Begriffe über Sittlichkeit und Anstand eine andre Richtung erhalten haben, einen sehr verführerischen Reitz erwecken würden. In verschiedenen kleinen Republiken der Schweitz und an mehreren Orten in Deutschland werden junge unverheirathete Personen von beyden Geschlechtern, sogar Verlobte, frey von aller Aufsicht der Aeltern und Vorgesetzten, bey den Lustbarkeiten gelassen, die sie unter sich anstellen, ohne daß die Ausgelassenheit der Sitten dadurch befördert würde. Es scheint, daß im Moralischen wie im Physischen die Idee von Gefährlichkeit, welche man mit gewissen Lagen verbindet, die Gefahr vergrößert. Oft geht derjenige unversehrt am Rande des Abgrunds vorüber, der gewiß hineingestürzt wäre, wenn man ihn durch den Zuruf, daß er fallen könnte, schwankend in seinem Tritte gemacht hätte. Freylich giebt es schlechte Menschen, die das Zutrauen des Publikums mißbrauchen; aber diese entscheiden nichts für den größern Haufen. Die Gelegenheit, sich täglich, und mit so vieler Freyheit zu sehen, spannt die Imagination weit weniger, und reitzt dadurch viel minder die Sinne, als wenn Hindernisse und Trennung sie in beständiger Unruhe erhielten. Die Gewohnheit der Italiäner, nie die Thüren zu verschließen, die Bedienten immer im Vorzimmer zu haben, die langen Tage, die Ohrenbeichte, <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0328" n="328"/> <p>Die Menschen wachsen mit den Ideen auf, daß ein unschuldiger näherer Umgang zwischen den verschiedenen Geschlechtern Statt finden könne. Es ist unglaublich, wie sehr sich die Sinne nach einer solchen Ueberzeugung gewöhnen, und ungerührt bey Gelegenheiten bleiben, welche für Menschen, deren Begriffe über Sittlichkeit und Anstand eine andre Richtung erhalten haben, einen sehr verführerischen Reitz erwecken würden. In verschiedenen kleinen Republiken der Schweitz und an mehreren Orten in Deutschland werden junge unverheirathete Personen von beyden Geschlechtern, sogar Verlobte, frey von aller Aufsicht der Aeltern und Vorgesetzten, bey den Lustbarkeiten gelassen, die sie unter sich anstellen, ohne daß die Ausgelassenheit der Sitten dadurch befördert würde. Es scheint, daß im Moralischen wie im Physischen die Idee von Gefährlichkeit, welche man mit gewissen Lagen verbindet, die Gefahr vergrößert. Oft geht derjenige unversehrt am Rande des Abgrunds vorüber, der gewiß hineingestürzt wäre, wenn man ihn durch den Zuruf, daß er fallen könnte, schwankend in seinem Tritte gemacht hätte. Freylich giebt es schlechte Menschen, die das Zutrauen des Publikums mißbrauchen; aber diese entscheiden nichts für den größern Haufen.</p> <p>Die Gelegenheit, sich täglich, und mit so vieler Freyheit zu sehen, spannt die Imagination weit weniger, und reitzt dadurch viel minder die Sinne, als wenn Hindernisse und Trennung sie in beständiger Unruhe erhielten. Die Gewohnheit der Italiäner, nie die Thüren zu verschließen, die Bedienten immer im Vorzimmer zu haben, die langen Tage, die Ohrenbeichte, </p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [328/0328]
Die Menschen wachsen mit den Ideen auf, daß ein unschuldiger näherer Umgang zwischen den verschiedenen Geschlechtern Statt finden könne. Es ist unglaublich, wie sehr sich die Sinne nach einer solchen Ueberzeugung gewöhnen, und ungerührt bey Gelegenheiten bleiben, welche für Menschen, deren Begriffe über Sittlichkeit und Anstand eine andre Richtung erhalten haben, einen sehr verführerischen Reitz erwecken würden. In verschiedenen kleinen Republiken der Schweitz und an mehreren Orten in Deutschland werden junge unverheirathete Personen von beyden Geschlechtern, sogar Verlobte, frey von aller Aufsicht der Aeltern und Vorgesetzten, bey den Lustbarkeiten gelassen, die sie unter sich anstellen, ohne daß die Ausgelassenheit der Sitten dadurch befördert würde. Es scheint, daß im Moralischen wie im Physischen die Idee von Gefährlichkeit, welche man mit gewissen Lagen verbindet, die Gefahr vergrößert. Oft geht derjenige unversehrt am Rande des Abgrunds vorüber, der gewiß hineingestürzt wäre, wenn man ihn durch den Zuruf, daß er fallen könnte, schwankend in seinem Tritte gemacht hätte. Freylich giebt es schlechte Menschen, die das Zutrauen des Publikums mißbrauchen; aber diese entscheiden nichts für den größern Haufen.
Die Gelegenheit, sich täglich, und mit so vieler Freyheit zu sehen, spannt die Imagination weit weniger, und reitzt dadurch viel minder die Sinne, als wenn Hindernisse und Trennung sie in beständiger Unruhe erhielten. Die Gewohnheit der Italiäner, nie die Thüren zu verschließen, die Bedienten immer im Vorzimmer zu haben, die langen Tage, die Ohrenbeichte,
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