Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Ranke, Leopold von: Die römischen Päpste. Bd. 1. Berlin, 1834.

Bild:
<< vorherige Seite

Geistige Richtung.
Dinge, diesen Verfall des religiösen Institutes beklagen,
so hätte doch ohne denselben der menschliche Geist eine sei-
ner eigenthümlichsten, folgenreichsten Richtungen schwerlich
ergreifen können.

Läugnen dürfen wir wohl nicht, daß so sinnreich, man-
nichfaltig und tief die Hervorbringungen des Mittelalters
auch sind, ihnen doch eine phantastische und der Realität
der Dinge nicht entsprechende Weltansicht zu Grunde liegt.
Hätte die Kirche in voller, bewußter Kraft bestanden, so
würde sie dieselbe streng festgehalten haben. Allein wie sie
nun war, so ließ sie dem Geiste die Freiheit einer neuen,
nach einer ganz andern Seite hingerichteten Entwickelung.

Man darf sagen, es war ein enge begrenzter Horizont,
der während jener Jahrhunderte die Geister mit Nothwen-
digkeit in seinem Umkreise beschlossen hielt; die erneuerte
Kenntniß des Alterthums bewirkte, daß er durchbrochen,
daß eine höhere, umfassendere, größere Aussicht eröffnet
ward.

Nicht als hätten die mittleren Jahrhunderte die Alten
nicht gekannt. Die Begierde, mit der die Araber, von
denen so viel wissenschaftliches Bestreben hernach in das
Abendland überging, die Werke der Alten zusammenbrach-
ten und sich aneigneten, wird dem Eifer, mit dem die
Italiener des funfzehnten Jahrhunderts das nehmliche tha-
ten, nicht viel nachstehen, und Calif Mamun läßt sich in
dieser Hinsicht wohl mit Cosimo Medici vergleichen. Be-
merken wir aber den Unterschied. So unbedeutend er schei-
nen möchte, so ist er, däucht mich, entscheidend. Die Ara-
ber übersetzten: sie vernichteten oft die Originale gradezu;

Geiſtige Richtung.
Dinge, dieſen Verfall des religioͤſen Inſtitutes beklagen,
ſo haͤtte doch ohne denſelben der menſchliche Geiſt eine ſei-
ner eigenthuͤmlichſten, folgenreichſten Richtungen ſchwerlich
ergreifen koͤnnen.

Laͤugnen duͤrfen wir wohl nicht, daß ſo ſinnreich, man-
nichfaltig und tief die Hervorbringungen des Mittelalters
auch ſind, ihnen doch eine phantaſtiſche und der Realitaͤt
der Dinge nicht entſprechende Weltanſicht zu Grunde liegt.
Haͤtte die Kirche in voller, bewußter Kraft beſtanden, ſo
wuͤrde ſie dieſelbe ſtreng feſtgehalten haben. Allein wie ſie
nun war, ſo ließ ſie dem Geiſte die Freiheit einer neuen,
nach einer ganz andern Seite hingerichteten Entwickelung.

Man darf ſagen, es war ein enge begrenzter Horizont,
der waͤhrend jener Jahrhunderte die Geiſter mit Nothwen-
digkeit in ſeinem Umkreiſe beſchloſſen hielt; die erneuerte
Kenntniß des Alterthums bewirkte, daß er durchbrochen,
daß eine hoͤhere, umfaſſendere, groͤßere Ausſicht eroͤffnet
ward.

Nicht als haͤtten die mittleren Jahrhunderte die Alten
nicht gekannt. Die Begierde, mit der die Araber, von
denen ſo viel wiſſenſchaftliches Beſtreben hernach in das
Abendland uͤberging, die Werke der Alten zuſammenbrach-
ten und ſich aneigneten, wird dem Eifer, mit dem die
Italiener des funfzehnten Jahrhunderts das nehmliche tha-
ten, nicht viel nachſtehen, und Calif Mamun laͤßt ſich in
dieſer Hinſicht wohl mit Coſimo Medici vergleichen. Be-
merken wir aber den Unterſchied. So unbedeutend er ſchei-
nen moͤchte, ſo iſt er, daͤucht mich, entſcheidend. Die Ara-
ber uͤberſetzten: ſie vernichteten oft die Originale gradezu;

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0087" n="61"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#g">Gei&#x017F;tige Richtung</hi>.</fw><lb/>
Dinge, die&#x017F;en Verfall des religio&#x0364;&#x017F;en In&#x017F;titutes beklagen,<lb/>
&#x017F;o ha&#x0364;tte doch ohne den&#x017F;elben der men&#x017F;chliche Gei&#x017F;t eine &#x017F;ei-<lb/>
ner eigenthu&#x0364;mlich&#x017F;ten, folgenreich&#x017F;ten Richtungen &#x017F;chwerlich<lb/>
ergreifen ko&#x0364;nnen.</p><lb/>
            <p>La&#x0364;ugnen du&#x0364;rfen wir wohl nicht, daß &#x017F;o &#x017F;innreich, man-<lb/>
nichfaltig und tief die Hervorbringungen des Mittelalters<lb/>
auch &#x017F;ind, ihnen doch eine phanta&#x017F;ti&#x017F;che und der Realita&#x0364;t<lb/>
der Dinge nicht ent&#x017F;prechende Weltan&#x017F;icht zu Grunde liegt.<lb/>
Ha&#x0364;tte die Kirche in voller, bewußter Kraft be&#x017F;tanden, &#x017F;o<lb/>
wu&#x0364;rde &#x017F;ie die&#x017F;elbe &#x017F;treng fe&#x017F;tgehalten haben. Allein wie &#x017F;ie<lb/>
nun war, &#x017F;o ließ &#x017F;ie dem Gei&#x017F;te die Freiheit einer neuen,<lb/>
nach einer ganz andern Seite hingerichteten Entwickelung.</p><lb/>
            <p>Man darf &#x017F;agen, es war ein enge begrenzter Horizont,<lb/>
der wa&#x0364;hrend jener Jahrhunderte die Gei&#x017F;ter mit Nothwen-<lb/>
digkeit in &#x017F;einem Umkrei&#x017F;e be&#x017F;chlo&#x017F;&#x017F;en hielt; die erneuerte<lb/>
Kenntniß des Alterthums bewirkte, daß er durchbrochen,<lb/>
daß eine ho&#x0364;here, umfa&#x017F;&#x017F;endere, gro&#x0364;ßere Aus&#x017F;icht ero&#x0364;ffnet<lb/>
ward.</p><lb/>
            <p>Nicht als ha&#x0364;tten die mittleren Jahrhunderte die Alten<lb/>
nicht gekannt. Die Begierde, mit der die Araber, von<lb/>
denen &#x017F;o viel wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaftliches Be&#x017F;treben hernach in das<lb/>
Abendland u&#x0364;berging, die Werke der Alten zu&#x017F;ammenbrach-<lb/>
ten und &#x017F;ich aneigneten, wird dem Eifer, mit dem die<lb/>
Italiener des funfzehnten Jahrhunderts das nehmliche tha-<lb/>
ten, nicht viel nach&#x017F;tehen, und Calif Mamun la&#x0364;ßt &#x017F;ich in<lb/>
die&#x017F;er Hin&#x017F;icht wohl mit Co&#x017F;imo Medici vergleichen. Be-<lb/>
merken wir aber den Unter&#x017F;chied. So unbedeutend er &#x017F;chei-<lb/>
nen mo&#x0364;chte, &#x017F;o i&#x017F;t er, da&#x0364;ucht mich, ent&#x017F;cheidend. Die Ara-<lb/>
ber u&#x0364;ber&#x017F;etzten: &#x017F;ie vernichteten oft die Originale gradezu;<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[61/0087] Geiſtige Richtung. Dinge, dieſen Verfall des religioͤſen Inſtitutes beklagen, ſo haͤtte doch ohne denſelben der menſchliche Geiſt eine ſei- ner eigenthuͤmlichſten, folgenreichſten Richtungen ſchwerlich ergreifen koͤnnen. Laͤugnen duͤrfen wir wohl nicht, daß ſo ſinnreich, man- nichfaltig und tief die Hervorbringungen des Mittelalters auch ſind, ihnen doch eine phantaſtiſche und der Realitaͤt der Dinge nicht entſprechende Weltanſicht zu Grunde liegt. Haͤtte die Kirche in voller, bewußter Kraft beſtanden, ſo wuͤrde ſie dieſelbe ſtreng feſtgehalten haben. Allein wie ſie nun war, ſo ließ ſie dem Geiſte die Freiheit einer neuen, nach einer ganz andern Seite hingerichteten Entwickelung. Man darf ſagen, es war ein enge begrenzter Horizont, der waͤhrend jener Jahrhunderte die Geiſter mit Nothwen- digkeit in ſeinem Umkreiſe beſchloſſen hielt; die erneuerte Kenntniß des Alterthums bewirkte, daß er durchbrochen, daß eine hoͤhere, umfaſſendere, groͤßere Ausſicht eroͤffnet ward. Nicht als haͤtten die mittleren Jahrhunderte die Alten nicht gekannt. Die Begierde, mit der die Araber, von denen ſo viel wiſſenſchaftliches Beſtreben hernach in das Abendland uͤberging, die Werke der Alten zuſammenbrach- ten und ſich aneigneten, wird dem Eifer, mit dem die Italiener des funfzehnten Jahrhunderts das nehmliche tha- ten, nicht viel nachſtehen, und Calif Mamun laͤßt ſich in dieſer Hinſicht wohl mit Coſimo Medici vergleichen. Be- merken wir aber den Unterſchied. So unbedeutend er ſchei- nen moͤchte, ſo iſt er, daͤucht mich, entſcheidend. Die Ara- ber uͤberſetzten: ſie vernichteten oft die Originale gradezu;

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/ranke_paepste01_1834
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/ranke_paepste01_1834/87
Zitationshilfe: Ranke, Leopold von: Die römischen Päpste. Bd. 1. Berlin, 1834, S. 61. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ranke_paepste01_1834/87>, abgerufen am 04.12.2024.