In der Geschichte einer Nation, einer Macht ist es immer eine der schwersten Aufgaben, den Zusammenhang ihrer be- sondern Verhältnisse mit den allgemeinen wahrzunehmen.
Wohl entwickelt sich das besondere Leben nach einge- pflanzten Gesetzen aus seinem eigenthümlichen geistigen Grunde: sich selber gleich bewegt es sich durch die Zeital- ter fort. Unaufhörlich aber steht es doch auch unter all- gemeinen Einflüssen, die auf den Gang seiner Entwicke- lung mächtig einwirken.
Wir können sagen: der Charakter des heutigen Europa beruht auf diesem Gegensatz. Die Staaten, die Völker sind auf ewig von einander getrennt, aber zugleich sind sie in einer unauflöslichen Gemeinsamkeit begriffen. Es giebt keine Landesgeschichte, in der nicht die Universalhistorie eine große Rolle spielte. So nothwendig in sich selbst, so allumfassend ist die Aufeinanderfolge der Zeitalter, daß auch der mächtigste Staat oft nur als ein Glied der Gesammt- heit erscheint, von ihren Schicksalen umfangen und be- herrscht. Wer es einmal versucht hat, sich die Geschichte eines Volkes im Ganzen, ohne Willkühr und Täuschung zu denken, ihren Verlauf anzuschauen, wird die Schwie-
1*
In der Geſchichte einer Nation, einer Macht iſt es immer eine der ſchwerſten Aufgaben, den Zuſammenhang ihrer be- ſondern Verhaͤltniſſe mit den allgemeinen wahrzunehmen.
Wohl entwickelt ſich das beſondere Leben nach einge- pflanzten Geſetzen aus ſeinem eigenthuͤmlichen geiſtigen Grunde: ſich ſelber gleich bewegt es ſich durch die Zeital- ter fort. Unaufhoͤrlich aber ſteht es doch auch unter all- gemeinen Einfluͤſſen, die auf den Gang ſeiner Entwicke- lung maͤchtig einwirken.
Wir koͤnnen ſagen: der Charakter des heutigen Europa beruht auf dieſem Gegenſatz. Die Staaten, die Voͤlker ſind auf ewig von einander getrennt, aber zugleich ſind ſie in einer unaufloͤslichen Gemeinſamkeit begriffen. Es giebt keine Landesgeſchichte, in der nicht die Univerſalhiſtorie eine große Rolle ſpielte. So nothwendig in ſich ſelbſt, ſo allumfaſſend iſt die Aufeinanderfolge der Zeitalter, daß auch der maͤchtigſte Staat oft nur als ein Glied der Geſammt- heit erſcheint, von ihren Schickſalen umfangen und be- herrſcht. Wer es einmal verſucht hat, ſich die Geſchichte eines Volkes im Ganzen, ohne Willkuͤhr und Taͤuſchung zu denken, ihren Verlauf anzuſchauen, wird die Schwie-
1*
<TEI><text><body><divn="1"><pbfacs="#f0015"n="[3]"/><milestonerendition="#hr"unit="section"/><p><hirendition="#in">I</hi>n der Geſchichte einer Nation, einer Macht iſt es immer<lb/>
eine der ſchwerſten Aufgaben, den Zuſammenhang ihrer be-<lb/>ſondern Verhaͤltniſſe mit den allgemeinen wahrzunehmen.</p><lb/><p>Wohl entwickelt ſich das beſondere Leben nach einge-<lb/>
pflanzten Geſetzen aus ſeinem eigenthuͤmlichen geiſtigen<lb/>
Grunde: ſich ſelber gleich bewegt es ſich durch die Zeital-<lb/>
ter fort. Unaufhoͤrlich aber ſteht es doch auch unter all-<lb/>
gemeinen Einfluͤſſen, die auf den Gang ſeiner Entwicke-<lb/>
lung maͤchtig einwirken.</p><lb/><p>Wir koͤnnen ſagen: der Charakter des heutigen Europa<lb/>
beruht auf dieſem Gegenſatz. Die Staaten, die Voͤlker<lb/>ſind auf ewig von einander getrennt, aber zugleich ſind ſie<lb/>
in einer unaufloͤslichen Gemeinſamkeit begriffen. Es giebt<lb/>
keine Landesgeſchichte, in der nicht die Univerſalhiſtorie<lb/>
eine große Rolle ſpielte. So nothwendig in ſich ſelbſt, ſo<lb/>
allumfaſſend iſt die Aufeinanderfolge der Zeitalter, daß auch<lb/>
der maͤchtigſte Staat oft nur als ein Glied der Geſammt-<lb/>
heit erſcheint, von ihren Schickſalen umfangen und be-<lb/>
herrſcht. Wer es einmal verſucht hat, ſich die Geſchichte<lb/>
eines Volkes im Ganzen, ohne Willkuͤhr und Taͤuſchung<lb/>
zu denken, ihren Verlauf anzuſchauen, wird die Schwie-<lb/><fwplace="bottom"type="sig">1*</fw><lb/></p></div></body></text></TEI>
[[3]/0015]
In der Geſchichte einer Nation, einer Macht iſt es immer
eine der ſchwerſten Aufgaben, den Zuſammenhang ihrer be-
ſondern Verhaͤltniſſe mit den allgemeinen wahrzunehmen.
Wohl entwickelt ſich das beſondere Leben nach einge-
pflanzten Geſetzen aus ſeinem eigenthuͤmlichen geiſtigen
Grunde: ſich ſelber gleich bewegt es ſich durch die Zeital-
ter fort. Unaufhoͤrlich aber ſteht es doch auch unter all-
gemeinen Einfluͤſſen, die auf den Gang ſeiner Entwicke-
lung maͤchtig einwirken.
Wir koͤnnen ſagen: der Charakter des heutigen Europa
beruht auf dieſem Gegenſatz. Die Staaten, die Voͤlker
ſind auf ewig von einander getrennt, aber zugleich ſind ſie
in einer unaufloͤslichen Gemeinſamkeit begriffen. Es giebt
keine Landesgeſchichte, in der nicht die Univerſalhiſtorie
eine große Rolle ſpielte. So nothwendig in ſich ſelbſt, ſo
allumfaſſend iſt die Aufeinanderfolge der Zeitalter, daß auch
der maͤchtigſte Staat oft nur als ein Glied der Geſammt-
heit erſcheint, von ihren Schickſalen umfangen und be-
herrſcht. Wer es einmal verſucht hat, ſich die Geſchichte
eines Volkes im Ganzen, ohne Willkuͤhr und Taͤuſchung
zu denken, ihren Verlauf anzuſchauen, wird die Schwie-
1*
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Ranke, Leopold von: Die römischen Päpste. Bd. 2. Berlin, 1836, S. [3]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ranke_paepste02_1836/15>, abgerufen am 03.12.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.