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Ranke, Leopold von: Deutsche Geschichte im Zeitalter der Reformation. Bd. 1. Berlin, 1839.

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Zweites Buch. Erstes Capitel.
Jahrhunderte langer innerer Bildung sich gleichsam selber
inne wird, sich von den Überlieferungen losreißt, und die
Dinge, die Institute der Welt an seiner eignen Wahr-
heit prüft.

Auch in Deutschland verabsäumte man die Forderun-
gen der Form nicht so ganz. In dem Reineke läßt sich
wahrnehmen, wie der Bearbeiter alles entfernt was zur
Manier der romantischen Dichtung gehört, leichtere Über-
gänge sucht, Scenen des gemeinen Lebens zu vollerer An-
schaulichkeit ausbildet, überall verständlicher, vaterländischer
zu werden strebt, z. B. die deutschen Namen vollends ein-
führt; sein Bemühen ist vor allem, seinen Stoff zu popu-
larisiren, ihn der Nation so nahe wie möglich zu bringen,
und sein Werk hat hiebei die Form bekommen, in der es
nun wieder mehr als 3 Jahrhunderte seine Leser sich ge-
sammelt hat. Sebastian Brant besitzt für die Sentenz,
das Sprüchwörtliche ein unvergleichliches Talent, für seine
einfachen Gedanken weiß er den angemessensten Ausdruck
zu finden: seine Reime kommen ihm ungesucht und treffen
in glücklichem Wohllaut zusammen: "hier" sagt Geiler von
Keisersperg "ist das Angenehme und das Nützliche verbun-
den, es sind Becher reinen Weines, hier bietet man in
kunstvollen Geschirren fürstliche Speisen dar." 1 Aber so in
dieser wie in einer Menge anderer sie umgebenden Schrif-
ten bleibt der Inhalt die Hauptsache, der Ausdruck der

1 Geiler: Navicula fatuorum, für die Sitten-Geschichte noch
belehrender als das Original; J, u. Est hic, fährt er fort, in hoc
speculo veritas moralis sub figuris sub vulgari et vernacula lin-
gua nostra teutonica sub verbis similitudinibusque aptis et pul-
chris sub rhitmis quoque concinnis et instar cimbalorum conci-
nentibus
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Zweites Buch. Erſtes Capitel.
Jahrhunderte langer innerer Bildung ſich gleichſam ſelber
inne wird, ſich von den Überlieferungen losreißt, und die
Dinge, die Inſtitute der Welt an ſeiner eignen Wahr-
heit prüft.

Auch in Deutſchland verabſäumte man die Forderun-
gen der Form nicht ſo ganz. In dem Reineke läßt ſich
wahrnehmen, wie der Bearbeiter alles entfernt was zur
Manier der romantiſchen Dichtung gehört, leichtere Über-
gänge ſucht, Scenen des gemeinen Lebens zu vollerer An-
ſchaulichkeit ausbildet, überall verſtändlicher, vaterländiſcher
zu werden ſtrebt, z. B. die deutſchen Namen vollends ein-
führt; ſein Bemühen iſt vor allem, ſeinen Stoff zu popu-
lariſiren, ihn der Nation ſo nahe wie möglich zu bringen,
und ſein Werk hat hiebei die Form bekommen, in der es
nun wieder mehr als 3 Jahrhunderte ſeine Leſer ſich ge-
ſammelt hat. Sebaſtian Brant beſitzt für die Sentenz,
das Sprüchwörtliche ein unvergleichliches Talent, für ſeine
einfachen Gedanken weiß er den angemeſſenſten Ausdruck
zu finden: ſeine Reime kommen ihm ungeſucht und treffen
in glücklichem Wohllaut zuſammen: „hier“ ſagt Geiler von
Keiſersperg „iſt das Angenehme und das Nützliche verbun-
den, es ſind Becher reinen Weines, hier bietet man in
kunſtvollen Geſchirren fürſtliche Speiſen dar.“ 1 Aber ſo in
dieſer wie in einer Menge anderer ſie umgebenden Schrif-
ten bleibt der Inhalt die Hauptſache, der Ausdruck der

1 Geiler: Navicula fatuorum, fuͤr die Sitten-Geſchichte noch
belehrender als das Original; J, u. Est hic, faͤhrt er fort, in hoc
speculo veritas moralis sub figuris sub vulgari et vernacula lin-
gua nostra teutonica sub verbis similitudinibusque aptis et pul-
chris sub rhitmis quoque concinnis et instar cimbalorum conci-
nentibus
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[260/0278] Zweites Buch. Erſtes Capitel. Jahrhunderte langer innerer Bildung ſich gleichſam ſelber inne wird, ſich von den Überlieferungen losreißt, und die Dinge, die Inſtitute der Welt an ſeiner eignen Wahr- heit prüft. Auch in Deutſchland verabſäumte man die Forderun- gen der Form nicht ſo ganz. In dem Reineke läßt ſich wahrnehmen, wie der Bearbeiter alles entfernt was zur Manier der romantiſchen Dichtung gehört, leichtere Über- gänge ſucht, Scenen des gemeinen Lebens zu vollerer An- ſchaulichkeit ausbildet, überall verſtändlicher, vaterländiſcher zu werden ſtrebt, z. B. die deutſchen Namen vollends ein- führt; ſein Bemühen iſt vor allem, ſeinen Stoff zu popu- lariſiren, ihn der Nation ſo nahe wie möglich zu bringen, und ſein Werk hat hiebei die Form bekommen, in der es nun wieder mehr als 3 Jahrhunderte ſeine Leſer ſich ge- ſammelt hat. Sebaſtian Brant beſitzt für die Sentenz, das Sprüchwörtliche ein unvergleichliches Talent, für ſeine einfachen Gedanken weiß er den angemeſſenſten Ausdruck zu finden: ſeine Reime kommen ihm ungeſucht und treffen in glücklichem Wohllaut zuſammen: „hier“ ſagt Geiler von Keiſersperg „iſt das Angenehme und das Nützliche verbun- den, es ſind Becher reinen Weines, hier bietet man in kunſtvollen Geſchirren fürſtliche Speiſen dar.“ 1 Aber ſo in dieſer wie in einer Menge anderer ſie umgebenden Schrif- ten bleibt der Inhalt die Hauptſache, der Ausdruck der 1 Geiler: Navicula fatuorum, fuͤr die Sitten-Geſchichte noch belehrender als das Original; J, u. Est hic, faͤhrt er fort, in hoc speculo veritas moralis sub figuris sub vulgari et vernacula lin- gua nostra teutonica sub verbis similitudinibusque aptis et pul- chris sub rhitmis quoque concinnis et instar cimbalorum conci- nentibus.

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Zitationshilfe: Ranke, Leopold von: Deutsche Geschichte im Zeitalter der Reformation. Bd. 1. Berlin, 1839, S. 260. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ranke_reformation01_1839/278>, abgerufen am 24.11.2024.