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Ranke, Leopold von: Deutsche Geschichte im Zeitalter der Reformation. Bd. 1. Berlin, 1839.

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Zweites Buch. Erstes Capitel.
schen mögen, daß seine Eltern schon gestorben wären, um
sie hier durch diese bevorrechteten Gottesdienste sicher aus
dem Fegefeuer erlösen zu können; 1 -- aber dabei empfand
er doch auch in jedem Augenblick, wie wenig alle das mit
der tröstlichen Lehre übereinstimme, die er in dem Briefe
an die Römer und bei Augustin gefunden: indem er die
Scala santa auf den Knien zurücklegte, um den hohen
Ablaß zu erlangen, der an diese mühevolle Andacht geknüpft
war, hörte er eine widersprechende Stimme unaufhörlich in
seinem Innern rufen: "der Gerechte lebet seines Glaubens." 2

Nach seiner Rückkunft ward er 1512 Doctor der h.
Schrift, und von Jahr zu Jahr erweiterte sich seine Thä-
tigkeit. Er las an der Universität bald über das neue,
bald über das alte Testament: er predigte bei den Augu-
stinern und versah an der Stelle des erkrankten Pfarrers
das Pfarramt in der Stadt: im Jahre 1516 ernannte ihn
auch Staupitz während einer Reise zu seinem Verweser im
Orden, und wir finden ihn die Klöster in der ganzen Pro-
vinz besuchen, wo er Prioren einsetzt oder absetzt, Mönche
aufnimmt und verpflanzt, gleichzeitig die ökonomischen Klei-
nigkeiten beaufsichtigt und zu tieferer Gottesfurcht anzu-
leiten sucht; überdieß hat er sein eigenes mit Brüdern über-
fülltes und dabei sehr armes Kloster zu besorgen. Von
den Jahren 1515 und 1516 haben wir einige Schriften
von ihm übrig, aus denen wir die geistige Entwickelung
kennen lernen, in der er begriffen war. Noch hatten My-

1 Auslegung des 117ten Psalmes an Hans von Sternberg.
Werke Altenb. V, p. 251.
2 Erzählung Luthers in den Tischreden p. 609.

Zweites Buch. Erſtes Capitel.
ſchen mögen, daß ſeine Eltern ſchon geſtorben wären, um
ſie hier durch dieſe bevorrechteten Gottesdienſte ſicher aus
dem Fegefeuer erlöſen zu können; 1 — aber dabei empfand
er doch auch in jedem Augenblick, wie wenig alle das mit
der tröſtlichen Lehre übereinſtimme, die er in dem Briefe
an die Römer und bei Auguſtin gefunden: indem er die
Scala ſanta auf den Knien zurücklegte, um den hohen
Ablaß zu erlangen, der an dieſe mühevolle Andacht geknüpft
war, hörte er eine widerſprechende Stimme unaufhörlich in
ſeinem Innern rufen: „der Gerechte lebet ſeines Glaubens.“ 2

Nach ſeiner Rückkunft ward er 1512 Doctor der h.
Schrift, und von Jahr zu Jahr erweiterte ſich ſeine Thä-
tigkeit. Er las an der Univerſität bald über das neue,
bald über das alte Teſtament: er predigte bei den Augu-
ſtinern und verſah an der Stelle des erkrankten Pfarrers
das Pfarramt in der Stadt: im Jahre 1516 ernannte ihn
auch Staupitz während einer Reiſe zu ſeinem Verweſer im
Orden, und wir finden ihn die Klöſter in der ganzen Pro-
vinz beſuchen, wo er Prioren einſetzt oder abſetzt, Mönche
aufnimmt und verpflanzt, gleichzeitig die ökonomiſchen Klei-
nigkeiten beaufſichtigt und zu tieferer Gottesfurcht anzu-
leiten ſucht; überdieß hat er ſein eigenes mit Brüdern über-
fülltes und dabei ſehr armes Kloſter zu beſorgen. Von
den Jahren 1515 und 1516 haben wir einige Schriften
von ihm übrig, aus denen wir die geiſtige Entwickelung
kennen lernen, in der er begriffen war. Noch hatten My-

1 Auslegung des 117ten Pſalmes an Hans von Sternberg.
Werke Altenb. V, p. 251.
2 Erzaͤhlung Luthers in den Tiſchreden p. 609.
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[300/0318] Zweites Buch. Erſtes Capitel. ſchen mögen, daß ſeine Eltern ſchon geſtorben wären, um ſie hier durch dieſe bevorrechteten Gottesdienſte ſicher aus dem Fegefeuer erlöſen zu können; 1 — aber dabei empfand er doch auch in jedem Augenblick, wie wenig alle das mit der tröſtlichen Lehre übereinſtimme, die er in dem Briefe an die Römer und bei Auguſtin gefunden: indem er die Scala ſanta auf den Knien zurücklegte, um den hohen Ablaß zu erlangen, der an dieſe mühevolle Andacht geknüpft war, hörte er eine widerſprechende Stimme unaufhörlich in ſeinem Innern rufen: „der Gerechte lebet ſeines Glaubens.“ 2 Nach ſeiner Rückkunft ward er 1512 Doctor der h. Schrift, und von Jahr zu Jahr erweiterte ſich ſeine Thä- tigkeit. Er las an der Univerſität bald über das neue, bald über das alte Teſtament: er predigte bei den Augu- ſtinern und verſah an der Stelle des erkrankten Pfarrers das Pfarramt in der Stadt: im Jahre 1516 ernannte ihn auch Staupitz während einer Reiſe zu ſeinem Verweſer im Orden, und wir finden ihn die Klöſter in der ganzen Pro- vinz beſuchen, wo er Prioren einſetzt oder abſetzt, Mönche aufnimmt und verpflanzt, gleichzeitig die ökonomiſchen Klei- nigkeiten beaufſichtigt und zu tieferer Gottesfurcht anzu- leiten ſucht; überdieß hat er ſein eigenes mit Brüdern über- fülltes und dabei ſehr armes Kloſter zu beſorgen. Von den Jahren 1515 und 1516 haben wir einige Schriften von ihm übrig, aus denen wir die geiſtige Entwickelung kennen lernen, in der er begriffen war. Noch hatten My- 1 Auslegung des 117ten Pſalmes an Hans von Sternberg. Werke Altenb. V, p. 251. 2 Erzaͤhlung Luthers in den Tiſchreden p. 609.

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Zitationshilfe: Ranke, Leopold von: Deutsche Geschichte im Zeitalter der Reformation. Bd. 1. Berlin, 1839, S. 300. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ranke_reformation01_1839/318>, abgerufen am 22.11.2024.