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Ranke, Leopold von: Deutsche Geschichte im Zeitalter der Reformation. Bd. 1. Berlin, 1839.

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Zweites Buch. Erstes Capitel.
verlange, das erlange der Glaube. 1 Man sieht: noch war
Luther nicht ganz mit sich einig, noch hegte er Meinungen,
die einander im Grunde widersprachen; allein in alle sei-
nen Schriften athmet doch zugleich ein gewaltiger Geist,
ein noch durch Bescheidenheit und Ehrfurcht zurückgehal-
tener, aber die Schranken schon überall durchbrechender
Jugendmuth, ein auf das Wesentliche dringender, die Fes-
seln des Systems zerreißender, auf neuen Pfaden, die er
sich bahnt, vordringender Genius. Im Jahr 1516 finden
wir Luther lebhaft beschäftigt seine Überzeugung von der
Rechtfertigung nach allen Seiten zu bewähren, und durch-
zuarbeiten. 2 Es bestärkt ihn nicht wenig, daß er die Un-
ächtheit eines dem Augustin zugeschriebenen Buches ent-
deckt, auf welches die Scholastiker viele der ihm widerwärtig-
sten Lehren gegründet hatten, welches in die Sentenzen des
Lombardus fast ganz aufgenommen worden war, de vera
et falsa poenitentia;
dann faßt er sich das Herz, die Lehre
der Scotisten von der Liebe, des Magister sententiarum
von der Hofnung zu bestreiten; -- schon ist er überzeugt,
daß es keine an und für sich Gott wohlgefällige Werke
gebe, wie Beten, Fasten, Nachtwachen; denn da es dabei
doch darauf ankomme, ob sie in der Furcht Gottes gesche-
hen, so sey jede andere Beschäftigung im Grunde eben so gut.

Im Gegensatz mit einigen Äußerungen deutscher Theo-
logen, welche ihm pelagianisch erscheinen, ergreift er mit

1 Fides impetrat, quae lex imperat.
2 Aus dem Sermo de propria sapientia sieht man, daß er
darüber schon Anfechtungen erfuhr. "Efficitur mihi et errans et
falsum dictum."

Zweites Buch. Erſtes Capitel.
verlange, das erlange der Glaube. 1 Man ſieht: noch war
Luther nicht ganz mit ſich einig, noch hegte er Meinungen,
die einander im Grunde widerſprachen; allein in alle ſei-
nen Schriften athmet doch zugleich ein gewaltiger Geiſt,
ein noch durch Beſcheidenheit und Ehrfurcht zurückgehal-
tener, aber die Schranken ſchon überall durchbrechender
Jugendmuth, ein auf das Weſentliche dringender, die Feſ-
ſeln des Syſtems zerreißender, auf neuen Pfaden, die er
ſich bahnt, vordringender Genius. Im Jahr 1516 finden
wir Luther lebhaft beſchäftigt ſeine Überzeugung von der
Rechtfertigung nach allen Seiten zu bewähren, und durch-
zuarbeiten. 2 Es beſtärkt ihn nicht wenig, daß er die Un-
ächtheit eines dem Auguſtin zugeſchriebenen Buches ent-
deckt, auf welches die Scholaſtiker viele der ihm widerwärtig-
ſten Lehren gegründet hatten, welches in die Sentenzen des
Lombardus faſt ganz aufgenommen worden war, de vera
et falsa poenitentia;
dann faßt er ſich das Herz, die Lehre
der Scotiſten von der Liebe, des Magiſter ſententiarum
von der Hofnung zu beſtreiten; — ſchon iſt er überzeugt,
daß es keine an und für ſich Gott wohlgefällige Werke
gebe, wie Beten, Faſten, Nachtwachen; denn da es dabei
doch darauf ankomme, ob ſie in der Furcht Gottes geſche-
hen, ſo ſey jede andere Beſchäftigung im Grunde eben ſo gut.

Im Gegenſatz mit einigen Äußerungen deutſcher Theo-
logen, welche ihm pelagianiſch erſcheinen, ergreift er mit

1 Fides impetrat, quae lex imperat.
2 Aus dem Sermo de propria sapientia ſieht man, daß er
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falsum dictum.“
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[302/0320] Zweites Buch. Erſtes Capitel. verlange, das erlange der Glaube. 1 Man ſieht: noch war Luther nicht ganz mit ſich einig, noch hegte er Meinungen, die einander im Grunde widerſprachen; allein in alle ſei- nen Schriften athmet doch zugleich ein gewaltiger Geiſt, ein noch durch Beſcheidenheit und Ehrfurcht zurückgehal- tener, aber die Schranken ſchon überall durchbrechender Jugendmuth, ein auf das Weſentliche dringender, die Feſ- ſeln des Syſtems zerreißender, auf neuen Pfaden, die er ſich bahnt, vordringender Genius. Im Jahr 1516 finden wir Luther lebhaft beſchäftigt ſeine Überzeugung von der Rechtfertigung nach allen Seiten zu bewähren, und durch- zuarbeiten. 2 Es beſtärkt ihn nicht wenig, daß er die Un- ächtheit eines dem Auguſtin zugeſchriebenen Buches ent- deckt, auf welches die Scholaſtiker viele der ihm widerwärtig- ſten Lehren gegründet hatten, welches in die Sentenzen des Lombardus faſt ganz aufgenommen worden war, de vera et falsa poenitentia; dann faßt er ſich das Herz, die Lehre der Scotiſten von der Liebe, des Magiſter ſententiarum von der Hofnung zu beſtreiten; — ſchon iſt er überzeugt, daß es keine an und für ſich Gott wohlgefällige Werke gebe, wie Beten, Faſten, Nachtwachen; denn da es dabei doch darauf ankomme, ob ſie in der Furcht Gottes geſche- hen, ſo ſey jede andere Beſchäftigung im Grunde eben ſo gut. Im Gegenſatz mit einigen Äußerungen deutſcher Theo- logen, welche ihm pelagianiſch erſcheinen, ergreift er mit 1 Fides impetrat, quae lex imperat. 2 Aus dem Sermo de propria sapientia ſieht man, daß er daruͤber ſchon Anfechtungen erfuhr. „Efficitur mihi et errans et falsum dictum.“

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Zitationshilfe: Ranke, Leopold von: Deutsche Geschichte im Zeitalter der Reformation. Bd. 1. Berlin, 1839, S. 302. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ranke_reformation01_1839/320>, abgerufen am 22.11.2024.