Ranke, Leopold von: Deutsche Geschichte im Zeitalter der Reformation. Bd. 2. Berlin, 1839.Unruhen in Wittenberg. ihm zweifelhaft, ob Mose die Bücher geschrieben die seinenNamen tragen, ob die Evangelien in ihrer ächten Gestalt auf uns gekommen: Ideen, welche Kritik und Gelehrsam- keit später so vielfach beschäftigt haben: -- schon ihm stiegen sie auf. 1 Indessen beherrschte ihn noch damals die Gegen- wart und Überlegenheit Luthers. Jetzt aber war er von Niemand mehr zurückgehalten: er hatte einen freien Schau- platz für seinen Ehrgeiz: ein enthusiasmirtes Publicum um- gab ihn: er selbst war unter diesen Umständen nicht mehr der alte; mit der feurigsten Beredtsamkeit entwickelte der kleine, schwarzbraune, sonnenverbrannte Mann, der sich sonst nur undeutlich ausdrückte, eine Fülle tiefsinniger, ex- travaganter, eine neue Welt athmender Ideen, mit denen er Jedermann hinriß. Da ereignete sich nun, daß er, noch gegen Ende des Es ist eine bekannte Thatsache, daß bei dem Beginn 1 Einige Auszüge aus seinen Schriften in Löschers Historia motuum I, 15. 2 Besonders merkwürdig ist hierüber die Notiz bei Pelzel: 2*
Unruhen in Wittenberg. ihm zweifelhaft, ob Moſe die Bücher geſchrieben die ſeinenNamen tragen, ob die Evangelien in ihrer ächten Geſtalt auf uns gekommen: Ideen, welche Kritik und Gelehrſam- keit ſpäter ſo vielfach beſchäftigt haben: — ſchon ihm ſtiegen ſie auf. 1 Indeſſen beherrſchte ihn noch damals die Gegen- wart und Überlegenheit Luthers. Jetzt aber war er von Niemand mehr zurückgehalten: er hatte einen freien Schau- platz für ſeinen Ehrgeiz: ein enthuſiasmirtes Publicum um- gab ihn: er ſelbſt war unter dieſen Umſtänden nicht mehr der alte; mit der feurigſten Beredtſamkeit entwickelte der kleine, ſchwarzbraune, ſonnenverbrannte Mann, der ſich ſonſt nur undeutlich ausdrückte, eine Fülle tiefſinniger, ex- travaganter, eine neue Welt athmender Ideen, mit denen er Jedermann hinriß. Da ereignete ſich nun, daß er, noch gegen Ende des Es iſt eine bekannte Thatſache, daß bei dem Beginn 1 Einige Auszuͤge aus ſeinen Schriften in Loͤſchers Historia motuum I, 15. 2 Beſonders merkwuͤrdig iſt hieruͤber die Notiz bei Pelzel: 2*
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Unruhen in Wittenberg.
ihm zweifelhaft, ob Moſe die Bücher geſchrieben die ſeinen
Namen tragen, ob die Evangelien in ihrer ächten Geſtalt
auf uns gekommen: Ideen, welche Kritik und Gelehrſam-
keit ſpäter ſo vielfach beſchäftigt haben: — ſchon ihm ſtiegen
ſie auf. 1 Indeſſen beherrſchte ihn noch damals die Gegen-
wart und Überlegenheit Luthers. Jetzt aber war er von
Niemand mehr zurückgehalten: er hatte einen freien Schau-
platz für ſeinen Ehrgeiz: ein enthuſiasmirtes Publicum um-
gab ihn: er ſelbſt war unter dieſen Umſtänden nicht mehr
der alte; mit der feurigſten Beredtſamkeit entwickelte der
kleine, ſchwarzbraune, ſonnenverbrannte Mann, der ſich
ſonſt nur undeutlich ausdrückte, eine Fülle tiefſinniger, ex-
travaganter, eine neue Welt athmender Ideen, mit denen
er Jedermann hinriß.
Da ereignete ſich nun, daß er, noch gegen Ende des
Jahres 1521, Gehülfen bekam, die von einer andern Seite
her auf gleichartige Bahnen gerathen waren, auf denen ſie
ſogar noch verwegener einhergiengen.
Es iſt eine bekannte Thatſache, daß bei dem Beginn
der huſſitiſchen Bewegungen, als Huß und Hieronymus
entfernt waren, vor allem ein paar Fremde, Niclas und
Peter von Dresden, verjagt von dem Biſchof von Meißen
und in Prag aufgenommen, die geweſen ſind, welche die
Menge auf die Abänderung des Ritus, namentlich im Sa-
crament hinführten, womit ſich gar bald andre fanatiſche
Meinungen vereinigten. 2
1 Einige Auszuͤge aus ſeinen Schriften in Loͤſchers Historia
motuum I, 15.
2 Beſonders merkwuͤrdig iſt hieruͤber die Notiz bei Pelzel:
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