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Ranke, Leopold von: Deutsche Geschichte im Zeitalter der Reformation. Bd. 2. Berlin, 1839.

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Drittes Buch. Drittes Capitel.
ein merkwürdiges Zeugniß für die allgemeine Verbreitung
des reformatorischen Geistes. Er klagt darüber daß sein
Hörsaal veröde: kaum sechs Zuhörer zähle er noch und die
seyen alle Franzosen; zugleich aber weiß er doch sein eignes
wissenschaftliches Bemühen nicht anders zu bezeichnen, als
indem er es mit den Bestrebungen Luthers vergleicht. Die
Glossatoren der ächten Texte, mit denen er es zu thun hat,
kommen ihm nicht anders vor, als die Scholastiker welche
Luther bekämpft: er möchte das ursprüngliche römische Recht
in seiner Reinheit wiederherstellen, wie Luther die Theolo-
gie der Bibel.

Von allen andern Studien aber, welchen wäre ein
ähnliches Bestreben nothwendiger gewesen als den histo-
rischen? Da war ein unermeßlicher Stoff aufgesam-
melt; aber die früheren Epochen verhüllte die noch im-
mer in fortgehender Entwickelung begriffene gelehrte Fabel:
die spätern kannte man nur höchst fragmentarisch, nach
der Darstellung der jedes Mal siegreich gebliebenen Partei:
die große kirchliche Fiction hatte die wichtigsten Theile ab-
sichtlich verfälscht. Zu wahrhaft geistiger, lebendiger, zu-
sammenhangender Auffassung war nicht zu gelangen: der
Geist, den nach ächter Erkenntniß dürstet, schauderte
doch vor diesen unbezwinglichen Massen. Einen Ver-
such sie zu durchbrechen, machte eben in diesem Jahre
Johann Aventin, ein Mann, der früher die literarische
Richtung der Neuerung mittheilnehmend begleitet und sich
jetzt der religiösen mit lebendigem Eifer hingab. Er ließ
sich keine Mühe verdrießen, für seine bairische Chronik, die
zugleich einen allgemein deutschen, ja universalhistorischen

Drittes Buch. Drittes Capitel.
ein merkwürdiges Zeugniß für die allgemeine Verbreitung
des reformatoriſchen Geiſtes. Er klagt darüber daß ſein
Hörſaal veröde: kaum ſechs Zuhörer zähle er noch und die
ſeyen alle Franzoſen; zugleich aber weiß er doch ſein eignes
wiſſenſchaftliches Bemühen nicht anders zu bezeichnen, als
indem er es mit den Beſtrebungen Luthers vergleicht. Die
Gloſſatoren der ächten Texte, mit denen er es zu thun hat,
kommen ihm nicht anders vor, als die Scholaſtiker welche
Luther bekämpft: er möchte das urſprüngliche römiſche Recht
in ſeiner Reinheit wiederherſtellen, wie Luther die Theolo-
gie der Bibel.

Von allen andern Studien aber, welchen wäre ein
ähnliches Beſtreben nothwendiger geweſen als den hiſto-
riſchen? Da war ein unermeßlicher Stoff aufgeſam-
melt; aber die früheren Epochen verhüllte die noch im-
mer in fortgehender Entwickelung begriffene gelehrte Fabel:
die ſpätern kannte man nur höchſt fragmentariſch, nach
der Darſtellung der jedes Mal ſiegreich gebliebenen Partei:
die große kirchliche Fiction hatte die wichtigſten Theile ab-
ſichtlich verfälſcht. Zu wahrhaft geiſtiger, lebendiger, zu-
ſammenhangender Auffaſſung war nicht zu gelangen: der
Geiſt, den nach ächter Erkenntniß dürſtet, ſchauderte
doch vor dieſen unbezwinglichen Maſſen. Einen Ver-
ſuch ſie zu durchbrechen, machte eben in dieſem Jahre
Johann Aventin, ein Mann, der früher die literariſche
Richtung der Neuerung mittheilnehmend begleitet und ſich
jetzt der religiöſen mit lebendigem Eifer hingab. Er ließ
ſich keine Mühe verdrießen, für ſeine bairiſche Chronik, die
zugleich einen allgemein deutſchen, ja univerſalhiſtoriſchen

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[86/0096] Drittes Buch. Drittes Capitel. ein merkwürdiges Zeugniß für die allgemeine Verbreitung des reformatoriſchen Geiſtes. Er klagt darüber daß ſein Hörſaal veröde: kaum ſechs Zuhörer zähle er noch und die ſeyen alle Franzoſen; zugleich aber weiß er doch ſein eignes wiſſenſchaftliches Bemühen nicht anders zu bezeichnen, als indem er es mit den Beſtrebungen Luthers vergleicht. Die Gloſſatoren der ächten Texte, mit denen er es zu thun hat, kommen ihm nicht anders vor, als die Scholaſtiker welche Luther bekämpft: er möchte das urſprüngliche römiſche Recht in ſeiner Reinheit wiederherſtellen, wie Luther die Theolo- gie der Bibel. Von allen andern Studien aber, welchen wäre ein ähnliches Beſtreben nothwendiger geweſen als den hiſto- riſchen? Da war ein unermeßlicher Stoff aufgeſam- melt; aber die früheren Epochen verhüllte die noch im- mer in fortgehender Entwickelung begriffene gelehrte Fabel: die ſpätern kannte man nur höchſt fragmentariſch, nach der Darſtellung der jedes Mal ſiegreich gebliebenen Partei: die große kirchliche Fiction hatte die wichtigſten Theile ab- ſichtlich verfälſcht. Zu wahrhaft geiſtiger, lebendiger, zu- ſammenhangender Auffaſſung war nicht zu gelangen: der Geiſt, den nach ächter Erkenntniß dürſtet, ſchauderte doch vor dieſen unbezwinglichen Maſſen. Einen Ver- ſuch ſie zu durchbrechen, machte eben in dieſem Jahre Johann Aventin, ein Mann, der früher die literariſche Richtung der Neuerung mittheilnehmend begleitet und ſich jetzt der religiöſen mit lebendigem Eifer hingab. Er ließ ſich keine Mühe verdrießen, für ſeine bairiſche Chronik, die zugleich einen allgemein deutſchen, ja univerſalhiſtoriſchen

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Zitationshilfe: Ranke, Leopold von: Deutsche Geschichte im Zeitalter der Reformation. Bd. 2. Berlin, 1839, S. 86. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ranke_reformation02_1839/96>, abgerufen am 21.11.2024.