nach und nach freimachte. Hauptsächlich unter der Leitung seines Vaters geschah dieß, welcher der vornehmste Mann im Orte war, Ammann daselbst, viele Wiesen und Alpen ei- genthümlich besaß, und von einer großen Familie umgeben -- er hatte acht Söhne -- patriarchalisch würdig Haus hielt.
Von so vielen Brüdern pflegte sich aber in jenen Zei- ten immer Einer oder der Andere dem geistlichen Stande zu widmen: dazu ward unser Huldreich Zwingli bestimmt: sein Oheim, welcher der erste Pfarrer gewesen, den die Wilden- hauser sich selbst gewählt, und der jetzt in Wesen stand, übernahm seine Vorbereitung.
Unter den Zügen, die uns aus Zwingli's Jugend über- liefert worden, ist wohl der der merkwürdigste, daß er von Natur einen besonders reinen Sinn für die Wahrheit be- saß. Er erzählt einmal, daß ihm -- bei dem ersten Er- wachen des Denkens über öffentliche Dinge -- der Gedanke aufgestiegen, ob nicht die Lüge eigentlich härter zu bestrafen wäre als der Diebstahl. Denn Wahrhaftigkeit, fügt er hinzu, sey doch die Mutter und Quelle aller Tugenden.
Mit diesem unverdorbenen Sinn, den er aus der reinen Luft seiner Berge mitbrachte, trat er nun in Literatur, öf- fentliches Leben und Kirche ein.
Er studirte auf den Schulen zu Basel und zu Bern, und den Universitäten zu Wien und wieder zu Basel. 1 Eben trat die Epoche ein, in welchen die classischen Studien, im Gegensatz mit der Scholastik des Mittelalters allenthalben
1 Sein vornehmster Lehrer in Basel war Thomas Wittenbach, selbst ein Schüler des Paul Scriptoris in Tübingen. Gualtherus Prae- fatio ad priorem partem homiliarum in Ev, Matthaei ad Josuam Wittenbachium (Misc. Tigur. III, p. 103.)
Fuͤnftes Buch. Drittes Capitel.
nach und nach freimachte. Hauptſächlich unter der Leitung ſeines Vaters geſchah dieß, welcher der vornehmſte Mann im Orte war, Ammann daſelbſt, viele Wieſen und Alpen ei- genthümlich beſaß, und von einer großen Familie umgeben — er hatte acht Söhne — patriarchaliſch würdig Haus hielt.
Von ſo vielen Brüdern pflegte ſich aber in jenen Zei- ten immer Einer oder der Andere dem geiſtlichen Stande zu widmen: dazu ward unſer Huldreich Zwingli beſtimmt: ſein Oheim, welcher der erſte Pfarrer geweſen, den die Wilden- hauſer ſich ſelbſt gewählt, und der jetzt in Weſen ſtand, übernahm ſeine Vorbereitung.
Unter den Zügen, die uns aus Zwingli’s Jugend über- liefert worden, iſt wohl der der merkwürdigſte, daß er von Natur einen beſonders reinen Sinn für die Wahrheit be- ſaß. Er erzählt einmal, daß ihm — bei dem erſten Er- wachen des Denkens über öffentliche Dinge — der Gedanke aufgeſtiegen, ob nicht die Lüge eigentlich härter zu beſtrafen wäre als der Diebſtahl. Denn Wahrhaftigkeit, fügt er hinzu, ſey doch die Mutter und Quelle aller Tugenden.
Mit dieſem unverdorbenen Sinn, den er aus der reinen Luft ſeiner Berge mitbrachte, trat er nun in Literatur, öf- fentliches Leben und Kirche ein.
Er ſtudirte auf den Schulen zu Baſel und zu Bern, und den Univerſitäten zu Wien und wieder zu Baſel. 1 Eben trat die Epoche ein, in welchen die claſſiſchen Studien, im Gegenſatz mit der Scholaſtik des Mittelalters allenthalben
1 Sein vornehmſter Lehrer in Baſel war Thomas Wittenbach, ſelbſt ein Schuͤler des Paul Scriptoris in Tuͤbingen. Gualtherus Prae- fatio ad priorem partem homiliarum in Ev, Matthaei ad Josuam Wittenbachium (Misc. Tigur. III, p. 103.)
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Fuͤnftes Buch. Drittes Capitel.
nach und nach freimachte. Hauptſächlich unter der Leitung
ſeines Vaters geſchah dieß, welcher der vornehmſte Mann
im Orte war, Ammann daſelbſt, viele Wieſen und Alpen ei-
genthümlich beſaß, und von einer großen Familie umgeben —
er hatte acht Söhne — patriarchaliſch würdig Haus hielt.
Von ſo vielen Brüdern pflegte ſich aber in jenen Zei-
ten immer Einer oder der Andere dem geiſtlichen Stande zu
widmen: dazu ward unſer Huldreich Zwingli beſtimmt: ſein
Oheim, welcher der erſte Pfarrer geweſen, den die Wilden-
hauſer ſich ſelbſt gewählt, und der jetzt in Weſen ſtand,
übernahm ſeine Vorbereitung.
Unter den Zügen, die uns aus Zwingli’s Jugend über-
liefert worden, iſt wohl der der merkwürdigſte, daß er von
Natur einen beſonders reinen Sinn für die Wahrheit be-
ſaß. Er erzählt einmal, daß ihm — bei dem erſten Er-
wachen des Denkens über öffentliche Dinge — der Gedanke
aufgeſtiegen, ob nicht die Lüge eigentlich härter zu beſtrafen
wäre als der Diebſtahl. Denn Wahrhaftigkeit, fügt er hinzu,
ſey doch die Mutter und Quelle aller Tugenden.
Mit dieſem unverdorbenen Sinn, den er aus der reinen
Luft ſeiner Berge mitbrachte, trat er nun in Literatur, öf-
fentliches Leben und Kirche ein.
Er ſtudirte auf den Schulen zu Baſel und zu Bern,
und den Univerſitäten zu Wien und wieder zu Baſel. 1 Eben
trat die Epoche ein, in welchen die claſſiſchen Studien, im
Gegenſatz mit der Scholaſtik des Mittelalters allenthalben
1 Sein vornehmſter Lehrer in Baſel war Thomas Wittenbach,
ſelbſt ein Schuͤler des Paul Scriptoris in Tuͤbingen. Gualtherus Prae-
fatio ad priorem partem homiliarum in Ev, Matthaei ad Josuam
Wittenbachium (Misc. Tigur. III, p. 103.)
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Ranke, Leopold von: Deutsche Geschichte im Zeitalter der Reformation. Bd. 3. Berlin, 1840, S. 56. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/ranke_reformation03_1840/72>, abgerufen am 25.11.2024.
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