nicht auf und kann keinen Gegenstand hinläng- lich festhalten. Dieser Zustand ist transito- risch, wenn er von überhäuften Eindrücken und flüchtigen Asthenieen; oder habituell, wenn er von einer permanenten Schwäche des Verstandes und der gesammten Seelenkräfte her- rührt *). Die Vertiefung ist ein einstweiliger Zustand, der durch ein so festes Anheften aller Seelenkraft auf einen Gegenstand entsteht, dass ausser demselben weder Sinneseindrücke noch Erinnerungen unserer Pflichtverhältnisse zum kla- ren Bewusstseyn gelangen. Sie artet in Grübe- ley, und diese in Grillenfängerey aus, wenn die Grübeley auf unsere Handlungen einen sichtbaren Einfluss hat. Ihre Ursachen sind ver- schieden. Bald fesselt die Grösse des Interesses, bald Schwäche der Seele uns an einen Gegen- stand. Denn ein Mensch, der zu wenig Extensi- tät des Verstandes hat, muss sich allen andern entziehen, wenn er ein Object genau beachten will. Der höchste Grad der Vertiefung in Bezie- hung eines Gegenstandes, der uns durch das In- teresse der Lust anzieht, ist Entzückung, in welcher die Seele gleichsam cataleptisch auf einen Gegenstand hinstarrt, und für alles andere kalt und gefühllos bleibt. Als Beispiele der Vertie- fung habe ich oben schon den seligen D. Sem- ler und Archimedes angezogen. Diesem
*)Hoffbauer 1 Th. 74 S.
nicht auf und kann keinen Gegenſtand hinläng- lich feſthalten. Dieſer Zuſtand iſt tranſito- riſch, wenn er von überhäuften Eindrücken und flüchtigen Aſthenieen; oder habituell, wenn er von einer permanenten Schwäche des Verſtandes und der geſammten Seelenkräfte her- rührt *). Die Vertiefung iſt ein einſtweiliger Zuſtand, der durch ein ſo feſtes Anheften aller Seelenkraft auf einen Gegenſtand entſteht, daſs auſser demſelben weder Sinneseindrücke noch Erinnerungen unſerer Pflichtverhältniſſe zum kla- ren Bewuſstſeyn gelangen. Sie artet in Grübe- ley, und dieſe in Grillenfängerey aus, wenn die Grübeley auf unſere Handlungen einen ſichtbaren Einfluſs hat. Ihre Urſachen ſind ver- ſchieden. Bald feſſelt die Gröſse des Intereſſes, bald Schwäche der Seele uns an einen Gegen- ſtand. Denn ein Menſch, der zu wenig Extenſi- tät des Verſtandes hat, muſs ſich allen andern entziehen, wenn er ein Object genau beachten will. Der höchſte Grad der Vertiefung in Bezie- hung eines Gegenſtandes, der uns durch das In- tereſſe der Luſt anzieht, iſt Entzückung, in welcher die Seele gleichſam cataleptiſch auf einen Gegenſtand hinſtarrt, und für alles andere kalt und gefühllos bleibt. Als Beiſpiele der Vertie- fung habe ich oben ſchon den ſeligen D. Sem- ler und Archimedes angezogen. Dieſem
*)Hoffbauer 1 Th. 74 S.
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nicht auf und kann keinen Gegenſtand hinläng-
lich feſthalten. Dieſer Zuſtand iſt tranſito-
riſch, wenn er von überhäuften Eindrücken
und flüchtigen Aſthenieen; oder habituell,
wenn er von einer permanenten Schwäche des
Verſtandes und der geſammten Seelenkräfte her-
rührt *). Die Vertiefung iſt ein einſtweiliger
Zuſtand, der durch ein ſo feſtes Anheften aller
Seelenkraft auf einen Gegenſtand entſteht, daſs
auſser demſelben weder Sinneseindrücke noch
Erinnerungen unſerer Pflichtverhältniſſe zum kla-
ren Bewuſstſeyn gelangen. Sie artet in Grübe-
ley, und dieſe in Grillenfängerey aus,
wenn die Grübeley auf unſere Handlungen einen
ſichtbaren Einfluſs hat. Ihre Urſachen ſind ver-
ſchieden. Bald feſſelt die Gröſse des Intereſſes,
bald Schwäche der Seele uns an einen Gegen-
ſtand. Denn ein Menſch, der zu wenig Extenſi-
tät des Verſtandes hat, muſs ſich allen andern
entziehen, wenn er ein Object genau beachten
will. Der höchſte Grad der Vertiefung in Bezie-
hung eines Gegenſtandes, der uns durch das In-
tereſſe der Luſt anzieht, iſt Entzückung, in
welcher die Seele gleichſam cataleptiſch auf einen
Gegenſtand hinſtarrt, und für alles andere kalt
und gefühllos bleibt. Als Beiſpiele der Vertie-
fung habe ich oben ſchon den ſeligen D. Sem-
ler und Archimedes angezogen. Dieſem
*) Hoffbauer 1 Th. 74 S.
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Reil, Johann Christian: Rhapsodieen über die Anwendung der psychischen Curmethode auf Geisteszerrüttungen. Halle, 1803, S. 108. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/reil_curmethode_1803/113>, abgerufen am 23.11.2024.
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