Was soll der Kranke bey diesen Ideenjagden zu seiner Haltung thun? Er muss es im Anfall versuchen, laut und langsam zu lesen. Dies Hülfsmittel heftet die in der Irre herumschwär- mende Phantasie auf eine bestimmte Gedanken- reihe, vertheilt die Nervenkraft durch die Bewe- gung so vieler Organe gleichmässiger und zer- streut ihre Anhäufung an einem Orte auf mehrere Gegenden des Nervensystems. Gelingt ihm kei- ne Rede aus eignen Kräften mehr, so soll er be- kannte Reime recitiren, die Finger zählen, an- fangs einfache Gegenstände langsam, sofern dabey vom Aussprechen die Rede ist, in der Folge zu- sammengesetzte Dinge schneller nennen. In noch kritischern Augenblicken, wo er nicht einmal mehr im Stande ist, viele Sylben im Zusammen- hang auszusprechen, muss er sich auf ein Object (Tisch, Stuhl) fixiren, das mit einer Sylbe aus- gesprochen wird, und zugleich dem Auge dassel- be vorhalten. Ist der Anfall so heftig, dass die Sprachorgane und die Fassungskraft für die Re- den anderer gelähmt sind; so soll der Kranke durch eine sinnliche Anschauung, die keiner so zusammengesetzten Kraft als die Aussprache ei- nes Worts bedarf, den wilden Strom der Ideen aufhalten. Dergleichen Hülfsmittel sind z. B. Anschauungen frappanter Gegenstände, fremder Thiere, durchziehender Truppen, oder ein leich- tes Spiel im Brett, das Abschreiben einer Vor- schrift, das Couvertiren interessanter Briefe, der
Was ſoll der Kranke bey dieſen Ideenjagden zu ſeiner Haltung thun? Er muſs es im Anfall verſuchen, laut und langſam zu leſen. Dies Hülfsmittel heftet die in der Irre herumſchwär- mende Phantaſie auf eine beſtimmte Gedanken- reihe, vertheilt die Nervenkraft durch die Bewe- gung ſo vieler Organe gleichmäſsiger und zer- ſtreut ihre Anhäufung an einem Orte auf mehrere Gegenden des Nervenſyſtems. Gelingt ihm kei- ne Rede aus eignen Kräften mehr, ſo ſoll er be- kannte Reime recitiren, die Finger zählen, an- fangs einfache Gegenſtände langſam, ſofern dabey vom Ausſprechen die Rede iſt, in der Folge zu- ſammengeſetzte Dinge ſchneller nennen. In noch kritiſchern Augenblicken, wo er nicht einmal mehr im Stande iſt, viele Sylben im Zuſammen- hang auszuſprechen, muſs er ſich auf ein Object (Tiſch, Stuhl) fixiren, das mit einer Sylbe aus- geſprochen wird, und zugleich dem Auge daſſel- be vorhalten. Iſt der Anfall ſo heftig, daſs die Sprachorgane und die Faſſungskraft für die Re- den anderer gelähmt ſind; ſo ſoll der Kranke durch eine ſinnliche Anſchauung, die keiner ſo zuſammengeſetzten Kraft als die Ausſprache ei- nes Worts bedarf, den wilden Strom der Ideen aufhalten. Dergleichen Hülfsmittel ſind z. B. Anſchauungen frappanter Gegenſtände, fremder Thiere, durchziehender Truppen, oder ein leich- tes Spiel im Brett, das Abſchreiben einer Vor- ſchrift, das Couvertiren intereſſanter Briefe, der
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Was ſoll der Kranke bey dieſen Ideenjagden
zu ſeiner Haltung thun? Er muſs es im Anfall
verſuchen, laut und langſam zu leſen. Dies
Hülfsmittel heftet die in der Irre herumſchwär-
mende Phantaſie auf eine beſtimmte Gedanken-
reihe, vertheilt die Nervenkraft durch die Bewe-
gung ſo vieler Organe gleichmäſsiger und zer-
ſtreut ihre Anhäufung an einem Orte auf mehrere
Gegenden des Nervenſyſtems. Gelingt ihm kei-
ne Rede aus eignen Kräften mehr, ſo ſoll er be-
kannte Reime recitiren, die Finger zählen, an-
fangs einfache Gegenſtände langſam, ſofern dabey
vom Ausſprechen die Rede iſt, in der Folge zu-
ſammengeſetzte Dinge ſchneller nennen. In noch
kritiſchern Augenblicken, wo er nicht einmal
mehr im Stande iſt, viele Sylben im Zuſammen-
hang auszuſprechen, muſs er ſich auf ein Object
(Tiſch, Stuhl) fixiren, das mit einer Sylbe aus-
geſprochen wird, und zugleich dem Auge daſſel-
be vorhalten. Iſt der Anfall ſo heftig, daſs die
Sprachorgane und die Faſſungskraft für die Re-
den anderer gelähmt ſind; ſo ſoll der Kranke
durch eine ſinnliche Anſchauung, die keiner ſo
zuſammengeſetzten Kraft als die Ausſprache ei-
nes Worts bedarf, den wilden Strom der Ideen
aufhalten. Dergleichen Hülfsmittel ſind z. B.
Anſchauungen frappanter Gegenſtände, fremder
Thiere, durchziehender Truppen, oder ein leich-
tes Spiel im Brett, das Abſchreiben einer Vor-
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Reil, Johann Christian: Rhapsodieen über die Anwendung der psychischen Curmethode auf Geisteszerrüttungen. Halle, 1803, S. 136. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/reil_curmethode_1803/141>, abgerufen am 23.11.2024.
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