in solchen, wo es auf Conjektur ankommt, Fort- schritte machen. Der Dumme ist meistens nicht menschenscheu und schüchtern, wie der Blödsin- nige, oft gar dummdreist, weil er die Gefahren nicht übersieht, in welchen er schwebt. Er flieht den, der ihn betriegt, aus einem gekränkten Stolz, nicht, wie der Blödsinnige, aus Sorge für seine eigne Sicherheit. Er ist dummstolz auf Vorzüge, die er entweder gar nicht besitzt, oder die kein vernünftiger Mensch dafür gelten lässt. Seltner ist er religiös, als der Blödsinnige, und dies auf eine andere Art. Er fühlt sich nicht sowohl der Gottheit bedürftig, sondern sucht sie vielmehr durch Schenkungen an Kirchen und milde Stiftungen zu bestechen, und sieht die weit unter sich, welche dies nicht können, weil er es nicht zu fassen vermag, dass Gott das Herz und nicht das Vermögen ansehe. Er redet nicht so oft mit sich als der Blödsinnige, weil er ohne dies Hülfsmittel auf seinem Gegenstand haften kann. Nur wenn er viele Gegenstände beachten will, spricht er für sich, und zwar mit dem Gepräge der Bedächtigkeit. Doch geschieht dies selten, weil er wegen seiner Einseitigkeit selten die Noth- wendigkeit fühlt, auf mehrere Momente Rück- sicht nehmen zu müssen. Er springt auch ab, wie der Blödsinnige, aber auf feste Punkte, da- hingegen der Blödsinnige sich ins Universum ver- liert. Er hat Lieblingsideen, mit welchen er sich viel weiss, die er ohne Rücksicht auf Zeit und
in ſolchen, wo es auf Conjektur ankommt, Fort- ſchritte machen. Der Dumme iſt meiſtens nicht menſchenſcheu und ſchüchtern, wie der Blödſin- nige, oft gar dummdreiſt, weil er die Gefahren nicht überſieht, in welchen er ſchwebt. Er flieht den, der ihn betriegt, aus einem gekränkten Stolz, nicht, wie der Blödſinnige, aus Sorge für ſeine eigne Sicherheit. Er iſt dummſtolz auf Vorzüge, die er entweder gar nicht beſitzt, oder die kein vernünftiger Menſch dafür gelten läſst. Seltner iſt er religiös, als der Blödſinnige, und dies auf eine andere Art. Er fühlt ſich nicht ſowohl der Gottheit bedürftig, ſondern ſucht ſie vielmehr durch Schenkungen an Kirchen und milde Stiftungen zu beſtechen, und ſieht die weit unter ſich, welche dies nicht können, weil er es nicht zu faſſen vermag, daſs Gott das Herz und nicht das Vermögen anſehe. Er redet nicht ſo oft mit ſich als der Blödſinnige, weil er ohne dies Hülfsmittel auf ſeinem Gegenſtand haften kann. Nur wenn er viele Gegenſtände beachten will, ſpricht er für ſich, und zwar mit dem Gepräge der Bedächtigkeit. Doch geſchieht dies ſelten, weil er wegen ſeiner Einſeitigkeit ſelten die Noth- wendigkeit fühlt, auf mehrere Momente Rück- ſicht nehmen zu müſſen. Er ſpringt auch ab, wie der Blödſinnige, aber auf feſte Punkte, da- hingegen der Blödſinnige ſich ins Univerſum ver- liert. Er hat Lieblingsideen, mit welchen er ſich viel weiſs, die er ohne Rückſicht auf Zeit und
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in ſolchen, wo es auf Conjektur ankommt, Fort-
ſchritte machen. Der Dumme iſt meiſtens nicht
menſchenſcheu und ſchüchtern, wie der Blödſin-
nige, oft gar dummdreiſt, weil er die Gefahren
nicht überſieht, in welchen er ſchwebt. Er flieht
den, der ihn betriegt, aus einem gekränkten
Stolz, nicht, wie der Blödſinnige, aus Sorge für
ſeine eigne Sicherheit. Er iſt dummſtolz auf
Vorzüge, die er entweder gar nicht beſitzt, oder
die kein vernünftiger Menſch dafür gelten läſst.
Seltner iſt er religiös, als der Blödſinnige, und
dies auf eine andere Art. Er fühlt ſich nicht
ſowohl der Gottheit bedürftig, ſondern ſucht ſie
vielmehr durch Schenkungen an Kirchen und
milde Stiftungen zu beſtechen, und ſieht die weit
unter ſich, welche dies nicht können, weil er es
nicht zu faſſen vermag, daſs Gott das Herz und
nicht das Vermögen anſehe. Er redet nicht ſo
oft mit ſich als der Blödſinnige, weil er ohne dies
Hülfsmittel auf ſeinem Gegenſtand haften kann.
Nur wenn er viele Gegenſtände beachten will,
ſpricht er für ſich, und zwar mit dem Gepräge
der Bedächtigkeit. Doch geſchieht dies ſelten,
weil er wegen ſeiner Einſeitigkeit ſelten die Noth-
wendigkeit fühlt, auf mehrere Momente Rück-
ſicht nehmen zu müſſen. Er ſpringt auch ab,
wie der Blödſinnige, aber auf feſte Punkte, da-
hingegen der Blödſinnige ſich ins Univerſum ver-
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Reil, Johann Christian: Rhapsodieen über die Anwendung der psychischen Curmethode auf Geisteszerrüttungen. Halle, 1803, S. 423. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/reil_curmethode_1803/428>, abgerufen am 22.11.2024.
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