und im fieberhaften Irrereden. Der Kranke nimmt entweder gar nichts von allen dem wahr, was um ihm herum vorgeht, oder er nimmt die äusseren Gegenstände falsch wahr, und unter- scheidet sie nicht genau von den Phantomen, die seine Phantasie ausheckt. Endlich gehört noch der Traum hieher, in welchem die Sinnorgane schlafen, und daher den Träumer nicht an die Welt heranziehen können. Er wird bald über sein Verhältniss zu derselben mit sich uneins, ver- liert seinen wahren Standpunkt in der Zeit und im Raume, schwimmt fort in das Reich der Möglichkeiten, und hält die Bilderwelt seiner Phantasie für eine reale Welt ausser derselben. Je mehr er sich dem wachenden Zustande nähert, desto mehr kehrt das Bewusstseyn zurück. Der Nachtwandler ist nicht ganz ohne Bewusstseyn seiner Objektivität. Sonst würde es ihm seyn, als wenn er in einem absolut leeren Raume schwebte, wo nirgends fester Fuss gefasst werden könnte. Er würde nicht gehen, stehen oder eine Sache ergreifen können. Die Eindrücke der Aussen- dinge, wie sie auch auf ihn einfliessen mögen, wahrscheinlich durch blosse Reflexion in der Nervenorganisation, ertheilen seiner Phantasie in jedem Moment eine andere Richtung. Doch ist es sonderbar, dass er nur solche Dinge durch die Sinnorgane wahrnimmt, die mit seinem Traum- bilde in Beziehung stehn. Er fühlt feiner als ein Wachender, denn sein Gefühl dient ihm statt des
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und im fieberhaften Irrereden. Der Kranke nimmt entweder gar nichts von allen dem wahr, was um ihm herum vorgeht, oder er nimmt die äuſseren Gegenſtände falſch wahr, und unter- ſcheidet ſie nicht genau von den Phantomen, die ſeine Phantaſie ausheckt. Endlich gehört noch der Traum hieher, in welchem die Sinnorgane ſchlafen, und daher den Träumer nicht an die Welt heranziehen können. Er wird bald über ſein Verhältniſs zu derſelben mit ſich uneins, ver- liert ſeinen wahren Standpunkt in der Zeit und im Raume, ſchwimmt fort in das Reich der Möglichkeiten, und hält die Bilderwelt ſeiner Phantaſie für eine reale Welt auſser derſelben. Je mehr er ſich dem wachenden Zuſtande nähert, deſto mehr kehrt das Bewuſstſeyn zurück. Der Nachtwandler iſt nicht ganz ohne Bewuſstſeyn ſeiner Objektivität. Sonſt würde es ihm ſeyn, als wenn er in einem abſolut leeren Raume ſchwebte, wo nirgends feſter Fuſs gefaſst werden könnte. Er würde nicht gehen, ſtehen oder eine Sache ergreifen können. Die Eindrücke der Auſsen- dinge, wie ſie auch auf ihn einflieſsen mögen, wahrſcheinlich durch bloſse Reflexion in der Nervenorganiſation, ertheilen ſeiner Phantaſie in jedem Moment eine andere Richtung. Doch iſt es ſonderbar, daſs er nur ſolche Dinge durch die Sinnorgane wahrnimmt, die mit ſeinem Traum- bilde in Beziehung ſtehn. Er fühlt feiner als ein Wachender, denn ſein Gefühl dient ihm ſtatt des
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und im fieberhaften Irrereden. Der Kranke
nimmt entweder gar nichts von allen dem wahr,
was um ihm herum vorgeht, oder er nimmt die
äuſseren Gegenſtände falſch wahr, und unter-
ſcheidet ſie nicht genau von den Phantomen, die
ſeine Phantaſie ausheckt. Endlich gehört noch
der Traum hieher, in welchem die Sinnorgane
ſchlafen, und daher den Träumer nicht an die
Welt heranziehen können. Er wird bald über
ſein Verhältniſs zu derſelben mit ſich uneins, ver-
liert ſeinen wahren Standpunkt in der Zeit und
im Raume, ſchwimmt fort in das Reich der
Möglichkeiten, und hält die Bilderwelt ſeiner
Phantaſie für eine reale Welt auſser derſelben.
Je mehr er ſich dem wachenden Zuſtande nähert,
deſto mehr kehrt das Bewuſstſeyn zurück. Der
Nachtwandler iſt nicht ganz ohne Bewuſstſeyn
ſeiner Objektivität. Sonſt würde es ihm ſeyn, als
wenn er in einem abſolut leeren Raume ſchwebte,
wo nirgends feſter Fuſs gefaſst werden könnte.
Er würde nicht gehen, ſtehen oder eine Sache
ergreifen können. Die Eindrücke der Auſsen-
dinge, wie ſie auch auf ihn einflieſsen mögen,
wahrſcheinlich durch bloſse Reflexion in der
Nervenorganiſation, ertheilen ſeiner Phantaſie in
jedem Moment eine andere Richtung. Doch iſt
es ſonderbar, daſs er nur ſolche Dinge durch die
Sinnorgane wahrnimmt, die mit ſeinem Traum-
bilde in Beziehung ſtehn. Er fühlt feiner als ein
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Reil, Johann Christian: Rhapsodieen über die Anwendung der psychischen Curmethode auf Geisteszerrüttungen. Halle, 1803, S. 65. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/reil_curmethode_1803/70>, abgerufen am 26.11.2024.
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