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Rein, Johann Justus: Japan nach Reisen und Studien. Bd. 2. Leipzig, 1886.

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1. Das japanische Kunstgewerbe im Allgemeinen.
auf die Japaner. Nirgends steht er auf ihren kunstgewerblichen
Erzeugnissen geschrieben, aber das Auge des Kunstverständigen er-
kennt ihn und seine volle Wahrheit bei den meisten derselben. Es
bewundert die Freiheit der Behandlung, die packende Gewalt des
Ausdrucks, welche der japanische Künstler insbesondere in der Dar-
stellung der Vögel und Insecten, sowie mancher seiner Lieblings-
blumen, mit grosser Naturtreue zu verbinden weiss.

Wer wird leugnen wollen, dass dies der wahre, der vollberech-
tigte Naturalismus ist? Der Natur entnimmt der Künstler seine Mo-
tive; das schönste, was sie bietet, sucht er mit Hingabe und treu nach-
zubilden, unentweiht und unverfälscht durch Zuthaten seiner eigenen
Phantasie oder eines schmutzigen cynischen Sinnes. Nicht als ob
letzterer der japanischen Künstlerwelt durchaus fehlte. Er hat sich
früher sogar recht breit gemacht, ist aber zurückgedrängt worden
durch das bessere Urteil und Zusammenwirken von Fremden und
höher gestellten Einheimischen.

Diejenige Richtung unserer realistischen Kunst, welche ein be-
sonderes Gefallen an der Darstellung von Schauerscenen mancherlei
Art hat, von Scenen, wo Blut und Leichengeruch wahrzunehmen sind,
wie beispielsweise der talentvolle Brüsseler Maler Wiertz, oder wie
sie der berühmte Benvenuto Cellini sich zum Vorwurf nahm, als er
die bekannte Bronzestatue in der Loggia zu Florenz modellierte und
goss, hat in Japan nie Beifall gefunden, und es ist als eine bessere
Bildung unseres Geschmacks zu bezeichnen, wenn die Darstellung
dieser Bronzearbeit: Perseus auf dem Körper der Medusa stehend, das
abgeschlagene, bluttriefende Haupt derselben in der einen Hand, das
Schwert wie triumphierend über die Henkerarbeit in der andern füh-
rend, jetzt allgemein als ein haarsträubendes verwerfliches Motiv an-
gesehen wird. Aber auch die Vorliebe mancher Künstler für Motive
aus dem alltäglichen, gemeinen Leben, soweit sie sittlich verwerfliche
oder unästhetische Handlungen betreffen, kann vor einer strengen Kritik
nicht bestehen und ist jedenfalls keine "schöne Kunst". In jeder Kunst
hat die Realistik eben ihre Berechtigung und ihre Schranken; letztere
lassen sich nicht in eine kurze Regel fassen, sondern werden durch
eine sittliche Macht bestimmt, die auch das Schönheitsgefühl beherrscht
und leitet.

Die Frage, ob die Kunst moralisch sein müsse, ja ob sie es immer
sein könne, ist eine sehr alte und beschäftigte schon die griechischen
Philosophen. Jeder beantwortet sie nach Geschmack und eigener Nei-
gung. Cynische Darstellungen, so künstlerisch vollendet sie sein mögen,
sind aber ohne Zweifel ein Missbrauch der Kunst, denn diese soll

1. Das japanische Kunstgewerbe im Allgemeinen.
auf die Japaner. Nirgends steht er auf ihren kunstgewerblichen
Erzeugnissen geschrieben, aber das Auge des Kunstverständigen er-
kennt ihn und seine volle Wahrheit bei den meisten derselben. Es
bewundert die Freiheit der Behandlung, die packende Gewalt des
Ausdrucks, welche der japanische Künstler insbesondere in der Dar-
stellung der Vögel und Insecten, sowie mancher seiner Lieblings-
blumen, mit grosser Naturtreue zu verbinden weiss.

Wer wird leugnen wollen, dass dies der wahre, der vollberech-
tigte Naturalismus ist? Der Natur entnimmt der Künstler seine Mo-
tive; das schönste, was sie bietet, sucht er mit Hingabe und treu nach-
zubilden, unentweiht und unverfälscht durch Zuthaten seiner eigenen
Phantasie oder eines schmutzigen cynischen Sinnes. Nicht als ob
letzterer der japanischen Künstlerwelt durchaus fehlte. Er hat sich
früher sogar recht breit gemacht, ist aber zurückgedrängt worden
durch das bessere Urteil und Zusammenwirken von Fremden und
höher gestellten Einheimischen.

Diejenige Richtung unserer realistischen Kunst, welche ein be-
sonderes Gefallen an der Darstellung von Schauerscenen mancherlei
Art hat, von Scenen, wo Blut und Leichengeruch wahrzunehmen sind,
wie beispielsweise der talentvolle Brüsseler Maler Wiertz, oder wie
sie der berühmte Benvenuto Cellini sich zum Vorwurf nahm, als er
die bekannte Bronzestatue in der Loggia zu Florenz modellierte und
goss, hat in Japan nie Beifall gefunden, und es ist als eine bessere
Bildung unseres Geschmacks zu bezeichnen, wenn die Darstellung
dieser Bronzearbeit: Perseus auf dem Körper der Medusa stehend, das
abgeschlagene, bluttriefende Haupt derselben in der einen Hand, das
Schwert wie triumphierend über die Henkerarbeit in der andern füh-
rend, jetzt allgemein als ein haarsträubendes verwerfliches Motiv an-
gesehen wird. Aber auch die Vorliebe mancher Künstler für Motive
aus dem alltäglichen, gemeinen Leben, soweit sie sittlich verwerfliche
oder unästhetische Handlungen betreffen, kann vor einer strengen Kritik
nicht bestehen und ist jedenfalls keine »schöne Kunst«. In jeder Kunst
hat die Realistik eben ihre Berechtigung und ihre Schranken; letztere
lassen sich nicht in eine kurze Regel fassen, sondern werden durch
eine sittliche Macht bestimmt, die auch das Schönheitsgefühl beherrscht
und leitet.

Die Frage, ob die Kunst moralisch sein müsse, ja ob sie es immer
sein könne, ist eine sehr alte und beschäftigte schon die griechischen
Philosophen. Jeder beantwortet sie nach Geschmack und eigener Nei-
gung. Cynische Darstellungen, so künstlerisch vollendet sie sein mögen,
sind aber ohne Zweifel ein Missbrauch der Kunst, denn diese soll

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[383/0407] 1. Das japanische Kunstgewerbe im Allgemeinen. auf die Japaner. Nirgends steht er auf ihren kunstgewerblichen Erzeugnissen geschrieben, aber das Auge des Kunstverständigen er- kennt ihn und seine volle Wahrheit bei den meisten derselben. Es bewundert die Freiheit der Behandlung, die packende Gewalt des Ausdrucks, welche der japanische Künstler insbesondere in der Dar- stellung der Vögel und Insecten, sowie mancher seiner Lieblings- blumen, mit grosser Naturtreue zu verbinden weiss. Wer wird leugnen wollen, dass dies der wahre, der vollberech- tigte Naturalismus ist? Der Natur entnimmt der Künstler seine Mo- tive; das schönste, was sie bietet, sucht er mit Hingabe und treu nach- zubilden, unentweiht und unverfälscht durch Zuthaten seiner eigenen Phantasie oder eines schmutzigen cynischen Sinnes. Nicht als ob letzterer der japanischen Künstlerwelt durchaus fehlte. Er hat sich früher sogar recht breit gemacht, ist aber zurückgedrängt worden durch das bessere Urteil und Zusammenwirken von Fremden und höher gestellten Einheimischen. Diejenige Richtung unserer realistischen Kunst, welche ein be- sonderes Gefallen an der Darstellung von Schauerscenen mancherlei Art hat, von Scenen, wo Blut und Leichengeruch wahrzunehmen sind, wie beispielsweise der talentvolle Brüsseler Maler Wiertz, oder wie sie der berühmte Benvenuto Cellini sich zum Vorwurf nahm, als er die bekannte Bronzestatue in der Loggia zu Florenz modellierte und goss, hat in Japan nie Beifall gefunden, und es ist als eine bessere Bildung unseres Geschmacks zu bezeichnen, wenn die Darstellung dieser Bronzearbeit: Perseus auf dem Körper der Medusa stehend, das abgeschlagene, bluttriefende Haupt derselben in der einen Hand, das Schwert wie triumphierend über die Henkerarbeit in der andern füh- rend, jetzt allgemein als ein haarsträubendes verwerfliches Motiv an- gesehen wird. Aber auch die Vorliebe mancher Künstler für Motive aus dem alltäglichen, gemeinen Leben, soweit sie sittlich verwerfliche oder unästhetische Handlungen betreffen, kann vor einer strengen Kritik nicht bestehen und ist jedenfalls keine »schöne Kunst«. In jeder Kunst hat die Realistik eben ihre Berechtigung und ihre Schranken; letztere lassen sich nicht in eine kurze Regel fassen, sondern werden durch eine sittliche Macht bestimmt, die auch das Schönheitsgefühl beherrscht und leitet. Die Frage, ob die Kunst moralisch sein müsse, ja ob sie es immer sein könne, ist eine sehr alte und beschäftigte schon die griechischen Philosophen. Jeder beantwortet sie nach Geschmack und eigener Nei- gung. Cynische Darstellungen, so künstlerisch vollendet sie sein mögen, sind aber ohne Zweifel ein Missbrauch der Kunst, denn diese soll

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Zitationshilfe: Rein, Johann Justus: Japan nach Reisen und Studien. Bd. 2. Leipzig, 1886, S. 383. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/rein_japan02_1886/407>, abgerufen am 27.07.2024.