Rede mein Sohn, sagte Christine, was hast du gemacht?
"Liebes Mamachen, ich will dir nichts verschwei- gen, ich hab' dich zu lieb! Als ich einmal die Flü- gel des Papa sahe, hab' ich mir auch welche aus sei- nen alten gemacht. Wollen sie mich fliegen sehn? das ist allezeit mein Zeitvertreib, wenn ich allein bin."
"Ach mein Sohn! das sollst du nicht thun!"
"Still Still! Mamachen, ich will ganz niedrig, ganz niedrig fliegen, und sie sollen mich sehn."
"Christine ließ es geschehen, fest entschlossen ihm es zu verwehren, wenn sie die geringste Gefahr merkte."
Das kleine Menschgen -- er war dreyzehn Jahr alt -- legte seine Flügel an, setzte den erhebenden Parasol in Bewegung, und schwang sich durch einen zwiefachen Ruck in die Höhe der Bäume. Seine Mutter stieß einen lauten Schrey aus, aber der klei- ne Schelm richtete seinen Flug gerade vor sich hin, und fing eine wilde Taube, die er ihr brachte. Chri- stine halb voll Schreck, halb voll Freuden drückte ihn mit diesen Worten an ihre mütterliche Brust: Jch untersage dir den fernern Gebrauch deiner Flügel, ehe es dir dein Vater gelehrt hat. Aber die kleine So- phie war voller Freuden, und wäre die Mutter nicht zugegen gewesen, so hätte sie ihn gern gebeten, es noch einmal zu thun.
Sobald
Rede mein Sohn, ſagte Chriſtine, was haſt du gemacht?
„Liebes Mamachen, ich will dir nichts verſchwei- gen, ich hab’ dich zu lieb! Als ich einmal die Fluͤ- gel des Papa ſahe, hab’ ich mir auch welche aus ſei- nen alten gemacht. Wollen ſie mich fliegen ſehn? das iſt allezeit mein Zeitvertreib, wenn ich allein bin.‟
„Ach mein Sohn! das ſollſt du nicht thun!‟
„Still Still! Mamachen, ich will ganz niedrig, ganz niedrig fliegen, und ſie ſollen mich ſehn.‟
„Chriſtine ließ es geſchehen, feſt entſchloſſen ihm es zu verwehren, wenn ſie die geringſte Gefahr merkte.‟
Das kleine Menſchgen — er war dreyzehn Jahr alt — legte ſeine Fluͤgel an, ſetzte den erhebenden Paraſol in Bewegung, und ſchwang ſich durch einen zwiefachen Ruck in die Hoͤhe der Baͤume. Seine Mutter ſtieß einen lauten Schrey aus, aber der klei- ne Schelm richtete ſeinen Flug gerade vor ſich hin, und fing eine wilde Taube, die er ihr brachte. Chri- ſtine halb voll Schreck, halb voll Freuden druͤckte ihn mit dieſen Worten an ihre muͤtterliche Bruſt: Jch unterſage dir den fernern Gebrauch deiner Fluͤgel, ehe es dir dein Vater gelehrt hat. Aber die kleine So- phie war voller Freuden, und waͤre die Mutter nicht zugegen geweſen, ſo haͤtte ſie ihn gern gebeten, es noch einmal zu thun.
Sobald
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Rede mein Sohn, ſagte Chriſtine, was haſt du
gemacht?
„Liebes Mamachen, ich will dir nichts verſchwei-
gen, ich hab’ dich zu lieb! Als ich einmal die Fluͤ-
gel des Papa ſahe, hab’ ich mir auch welche aus ſei-
nen alten gemacht. Wollen ſie mich fliegen ſehn?
das iſt allezeit mein Zeitvertreib, wenn ich allein
bin.‟
„Ach mein Sohn! das ſollſt du nicht thun!‟
„Still Still! Mamachen, ich will ganz niedrig,
ganz niedrig fliegen, und ſie ſollen mich ſehn.‟
„Chriſtine ließ es geſchehen, feſt entſchloſſen
ihm es zu verwehren, wenn ſie die geringſte Gefahr
merkte.‟
Das kleine Menſchgen — er war dreyzehn Jahr
alt — legte ſeine Fluͤgel an, ſetzte den erhebenden
Paraſol in Bewegung, und ſchwang ſich durch einen
zwiefachen Ruck in die Hoͤhe der Baͤume. Seine
Mutter ſtieß einen lauten Schrey aus, aber der klei-
ne Schelm richtete ſeinen Flug gerade vor ſich hin,
und fing eine wilde Taube, die er ihr brachte. Chri-
ſtine halb voll Schreck, halb voll Freuden druͤckte
ihn mit dieſen Worten an ihre muͤtterliche Bruſt: Jch
unterſage dir den fernern Gebrauch deiner Fluͤgel, ehe
es dir dein Vater gelehrt hat. Aber die kleine So-
phie war voller Freuden, und waͤre die Mutter nicht
zugegen geweſen, ſo haͤtte ſie ihn gern gebeten, es
noch einmal zu thun.
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Rétif de La Bretonne, Nicolas-Edme: Der fliegende Mensch. Übers. v. Wilhelm Christhelf Siegmund Mylius. 2. Aufl. Dresden u. a., 1785, S. 92. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/retif_mensch_1785/100>, abgerufen am 22.11.2024.
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