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Rétif de La Bretonne, Nicolas-Edme: Der fliegende Mensch. Übers. v. Wilhelm Christhelf Siegmund Mylius. 2. Aufl. Dresden u. a., 1785.

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blickten hinein, aber die Dunkelheit in ihr war so
dicht, daß sie nichts entdecken konnten. Doch das
Geräusch einiger Bewegung setzte sie in Furcht; sie
schwangen ihre leichten Flügel und entfernten sich ge-
schwind. Bald erreichten sie wieder ihren Berg, oh-
ne etwas entdeckt zu haben.

Aber mein Vater, sagte Alexander, mich dünkt,
daß die Leute hier den Fledermäusen gleichen; am
Tage sehn wir nichts und überall herrscht die tiefste
Stille; und doch versichre ich, alle Nächte Stim-
men und Menschengeschrey bemerkt zu haben; lassen
Sie uns die kommende Nacht wachen, und uns ietzt
niederlegen, um gegen Mitternacht aufzuwecken.

Auch Victorin war schon darauf gefallen: aber
konnt' er wohl errathen von was für einer Art die
Menschen auf der Christineninsel -- diesen Namen
hatte er ihr gegeben -- waren? Der Einfall seines
Sohnes gefiel ihm, und um Mitternacht stellten sie
sich beyde an einen sichern Ort, wo sie alles beobach-
ten konnten.

Kaum war dies geschehen, als sie fünf bis sechs
Jnsulaner mit Weib und Kindern nach ihnen zukom-
men sahen. Diese Wilden betrachteten die Grotte und
sprachen etliche Worte mit einer kirrenden Stimme
ungefähr wie die Mäuse, aber viel stärker. Aus ih-
ren Unterredungen und Geberden konnte Victorin ab-
nehmen, daß sein Aufenthalt den Einwohnern kein
Geheimniß sey; aber worüber er am meisten staunte,
war, daß sie eben mit der Lebhaftigkeit liefen, und
die Früchte eben so sammleten, als wenn sie hell ge-

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blickten hinein, aber die Dunkelheit in ihr war ſo
dicht, daß ſie nichts entdecken konnten. Doch das
Geraͤuſch einiger Bewegung ſetzte ſie in Furcht; ſie
ſchwangen ihre leichten Fluͤgel und entfernten ſich ge-
ſchwind. Bald erreichten ſie wieder ihren Berg, oh-
ne etwas entdeckt zu haben.

Aber mein Vater, ſagte Alexander, mich duͤnkt,
daß die Leute hier den Fledermaͤuſen gleichen; am
Tage ſehn wir nichts und uͤberall herrſcht die tiefſte
Stille; und doch verſichre ich, alle Naͤchte Stim-
men und Menſchengeſchrey bemerkt zu haben; laſſen
Sie uns die kommende Nacht wachen, und uns ietzt
niederlegen, um gegen Mitternacht aufzuwecken.

Auch Victorin war ſchon darauf gefallen: aber
konnt’ er wohl errathen von was fuͤr einer Art die
Menſchen auf der Chriſtineninſel — dieſen Namen
hatte er ihr gegeben — waren? Der Einfall ſeines
Sohnes gefiel ihm, und um Mitternacht ſtellten ſie
ſich beyde an einen ſichern Ort, wo ſie alles beobach-
ten konnten.

Kaum war dies geſchehen, als ſie fuͤnf bis ſechs
Jnſulaner mit Weib und Kindern nach ihnen zukom-
men ſahen. Dieſe Wilden betrachteten die Grotte und
ſprachen etliche Worte mit einer kirrenden Stimme
ungefaͤhr wie die Maͤuſe, aber viel ſtaͤrker. Aus ih-
ren Unterredungen und Geberden konnte Victorin ab-
nehmen, daß ſein Aufenthalt den Einwohnern kein
Geheimniß ſey; aber woruͤber er am meiſten ſtaunte,
war, daß ſie eben mit der Lebhaftigkeit liefen, und
die Fruͤchte eben ſo ſammleten, als wenn ſie hell ge-

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[119/0127] blickten hinein, aber die Dunkelheit in ihr war ſo dicht, daß ſie nichts entdecken konnten. Doch das Geraͤuſch einiger Bewegung ſetzte ſie in Furcht; ſie ſchwangen ihre leichten Fluͤgel und entfernten ſich ge- ſchwind. Bald erreichten ſie wieder ihren Berg, oh- ne etwas entdeckt zu haben. Aber mein Vater, ſagte Alexander, mich duͤnkt, daß die Leute hier den Fledermaͤuſen gleichen; am Tage ſehn wir nichts und uͤberall herrſcht die tiefſte Stille; und doch verſichre ich, alle Naͤchte Stim- men und Menſchengeſchrey bemerkt zu haben; laſſen Sie uns die kommende Nacht wachen, und uns ietzt niederlegen, um gegen Mitternacht aufzuwecken. Auch Victorin war ſchon darauf gefallen: aber konnt’ er wohl errathen von was fuͤr einer Art die Menſchen auf der Chriſtineninſel — dieſen Namen hatte er ihr gegeben — waren? Der Einfall ſeines Sohnes gefiel ihm, und um Mitternacht ſtellten ſie ſich beyde an einen ſichern Ort, wo ſie alles beobach- ten konnten. Kaum war dies geſchehen, als ſie fuͤnf bis ſechs Jnſulaner mit Weib und Kindern nach ihnen zukom- men ſahen. Dieſe Wilden betrachteten die Grotte und ſprachen etliche Worte mit einer kirrenden Stimme ungefaͤhr wie die Maͤuſe, aber viel ſtaͤrker. Aus ih- ren Unterredungen und Geberden konnte Victorin ab- nehmen, daß ſein Aufenthalt den Einwohnern kein Geheimniß ſey; aber woruͤber er am meiſten ſtaunte, war, daß ſie eben mit der Lebhaftigkeit liefen, und die Fruͤchte eben ſo ſammleten, als wenn ſie hell ge- ſehn H 4

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Zitationshilfe: Rétif de La Bretonne, Nicolas-Edme: Der fliegende Mensch. Übers. v. Wilhelm Christhelf Siegmund Mylius. 2. Aufl. Dresden u. a., 1785, S. 119. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/retif_mensch_1785/127>, abgerufen am 21.11.2024.