me, welche sang, herkam. Man ließ zwar überall, aber vergeblich nachsuchen.
Endlich begab sich die schöne Christine in ihr Zimmer, und Victorin, der keine Hoffnung weiter hatte, die Beherrscherinn seiner Gedanken zu sehen, richtete seinen Flug nach der nächsten ohngefähr sie- ben Meilen entlegenen Stadt. Jn weniger als er- ner Stunde war er da, und entriß ein junges Mäd- chen aus den Händen einiger Schwelger, die sie an- gefallen hatten. Er brachte sie durch ein Fensier, das sie ihm angab; obgleich freylich halb ohnmäch- tig, für Schrecken nach Hause; weil sie ihm bald für einen Teufel, bald für einen Engel hielt. Dies machte den andern Morgen viel Gerede. Vergnügt über diesen Versuch kehrt' er wieder zu seinem Va- ter, gieng in seine Kammer und legte sich ins Bette.
Den andern Morgen untersucht' er seinen klei- nen seidenen Gurt, welcher die Feder in Bewegung setzte, und fand, daß er beynahe entzwey war: Er erschrack darüber, und brachte den ganzen Tag da- mit zu, die erwähnte Hülfsfeder zu finden, die ver- hindern sollte, daß er nicht, wie Johann Vezinier, herunter fiele und den Hals bräche, im Fall dieser unentbehrliche Gurt ihm fehlte.
Jndeß machte der Vorfall in der Nacht ein gro- ßes Lermen auf dem Schlosse, in der Stadt und in der ganzen Nachbarschaft. Hundert Personen, die nichts gesehen noch gehört hatten, versicherten gleich- wohl, den Großvogel sehr genau bemerkt zu haben. Das Gedicht, welches er gesungen hatte, ward wie-
derholt,
me, welche ſang, herkam. Man ließ zwar uͤberall, aber vergeblich nachſuchen.
Endlich begab ſich die ſchoͤne Chriſtine in ihr Zimmer, und Victorin, der keine Hoffnung weiter hatte, die Beherrſcherinn ſeiner Gedanken zu ſehen, richtete ſeinen Flug nach der naͤchſten ohngefaͤhr ſie- ben Meilen entlegenen Stadt. Jn weniger als er- ner Stunde war er da, und entriß ein junges Maͤd- chen aus den Haͤnden einiger Schwelger, die ſie an- gefallen hatten. Er brachte ſie durch ein Fenſier, das ſie ihm angab; obgleich freylich halb ohnmaͤch- tig, fuͤr Schrecken nach Hauſe; weil ſie ihm bald fuͤr einen Teufel, bald fuͤr einen Engel hielt. Dies machte den andern Morgen viel Gerede. Vergnuͤgt uͤber dieſen Verſuch kehrt’ er wieder zu ſeinem Va- ter, gieng in ſeine Kammer und legte ſich ins Bette.
Den andern Morgen unterſucht’ er ſeinen klei- nen ſeidenen Gurt, welcher die Feder in Bewegung ſetzte, und fand, daß er beynahe entzwey war: Er erſchrack daruͤber, und brachte den ganzen Tag da- mit zu, die erwaͤhnte Huͤlfsfeder zu finden, die ver- hindern ſollte, daß er nicht, wie Johann Vezinier, herunter fiele und den Hals braͤche, im Fall dieſer unentbehrliche Gurt ihm fehlte.
Jndeß machte der Vorfall in der Nacht ein gro- ßes Lermen auf dem Schloſſe, in der Stadt und in der ganzen Nachbarſchaft. Hundert Perſonen, die nichts geſehen noch gehoͤrt hatten, verſicherten gleich- wohl, den Großvogel ſehr genau bemerkt zu haben. Das Gedicht, welches er geſungen hatte, ward wie-
derholt,
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[27/0035]
me, welche ſang, herkam. Man ließ zwar uͤberall,
aber vergeblich nachſuchen.
Endlich begab ſich die ſchoͤne Chriſtine in ihr
Zimmer, und Victorin, der keine Hoffnung weiter
hatte, die Beherrſcherinn ſeiner Gedanken zu ſehen,
richtete ſeinen Flug nach der naͤchſten ohngefaͤhr ſie-
ben Meilen entlegenen Stadt. Jn weniger als er-
ner Stunde war er da, und entriß ein junges Maͤd-
chen aus den Haͤnden einiger Schwelger, die ſie an-
gefallen hatten. Er brachte ſie durch ein Fenſier,
das ſie ihm angab; obgleich freylich halb ohnmaͤch-
tig, fuͤr Schrecken nach Hauſe; weil ſie ihm bald
fuͤr einen Teufel, bald fuͤr einen Engel hielt. Dies
machte den andern Morgen viel Gerede. Vergnuͤgt
uͤber dieſen Verſuch kehrt’ er wieder zu ſeinem Va-
ter, gieng in ſeine Kammer und legte ſich ins Bette.
Den andern Morgen unterſucht’ er ſeinen klei-
nen ſeidenen Gurt, welcher die Feder in Bewegung
ſetzte, und fand, daß er beynahe entzwey war: Er
erſchrack daruͤber, und brachte den ganzen Tag da-
mit zu, die erwaͤhnte Huͤlfsfeder zu finden, die ver-
hindern ſollte, daß er nicht, wie Johann Vezinier,
herunter fiele und den Hals braͤche, im Fall dieſer
unentbehrliche Gurt ihm fehlte.
Jndeß machte der Vorfall in der Nacht ein gro-
ßes Lermen auf dem Schloſſe, in der Stadt und in
der ganzen Nachbarſchaft. Hundert Perſonen, die
nichts geſehen noch gehoͤrt hatten, verſicherten gleich-
wohl, den Großvogel ſehr genau bemerkt zu haben.
Das Gedicht, welches er geſungen hatte, ward wie-
derholt,
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Rétif de La Bretonne, Nicolas-Edme: Der fliegende Mensch. Übers. v. Wilhelm Christhelf Siegmund Mylius. 2. Aufl. Dresden u. a., 1785, S. 27. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/retif_mensch_1785/35>, abgerufen am 21.11.2024.
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