Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 1. Göttingen, 1748.

Bild:
<< vorherige Seite

der Clarissa.
den. Sie kehrte mir den Rücken zu, und rief
mit Hefftigkeit: wo nun hin/ Clarissa Har-
lowe?

Sie befohlen mir ja/ auf meine Stube
zu gehen.

Jch finde dich sehr bereitwillig/ da
wegzugehen/ wo ich bin. Geschieht es
aus Trotz/ oder aus Gehorsam? Du bist
sebr willfährig/ mich zu verlassen.

Jch konnte mich nicht länger halten, sondern
muste mich zu ihren Füssen werfen: Meine al-
lerliebste Mutter/ sagen sie mir zum vor-
aus/ was ich alles leiden/ und was aus mir
werden soll. Jch will es ertragen/ wenn
ich es nur ertragen kan: aber das ist mir
unerträglich/ wenn sie auf mich unwillig
sind.

"Laß mich allein, Clarissa Harlowe! Kein
"knien kan ich leiden! was für beugsame Ge-
"lencke, und was für ein unbeugsames Hertz!
Stehe auf, das sage ich dir!

"Jch kan nicht aufstehen. Jch muß meiner
"Mutter ungehorsam werden, wenn sie mir be-
"fielt, von ihr zu gehen, ehe sie mir vergeben
"hat. Hier ist kein murrisches Wesen! Keine
"Unart! sondern etwas schlimmers, nemlich
"offenbarer Ungehorsam. Sie können sich
"nicht von mir losreissen." (Jch umfassete sie
im knien, und sie wollte sich losmachen. Mein
Gesicht hielt ich in die Höhe, und sahe sie mit
weinenden Augen an, die gewiß die Sprache

mei-

der Clariſſa.
den. Sie kehrte mir den Ruͤcken zu, und rief
mit Hefftigkeit: wo nun hin/ Clariſſa Har-
lowe?

Sie befohlen mir ja/ auf meine Stube
zu gehen.

Jch finde dich ſehr bereitwillig/ da
wegzugehen/ wo ich bin. Geſchieht es
aus Trotz/ oder aus Gehorſam? Du biſt
ſebr willfaͤhrig/ mich zu verlaſſen.

Jch konnte mich nicht laͤnger halten, ſondern
muſte mich zu ihren Fuͤſſen werfen: Meine al-
lerliebſte Mutter/ ſagen ſie mir zum vor-
aus/ was ich alles leiden/ und was aus mir
werden ſoll. Jch will es ertragen/ wenn
ich es nur ertragen kan: aber das iſt mir
unertraͤglich/ wenn ſie auf mich unwillig
ſind.

„Laß mich allein, Clariſſa Harlowe! Kein
„knien kan ich leiden! was fuͤr beugſame Ge-
„lencke, und was fuͤr ein unbeugſames Hertz!
Stehe auf, das ſage ich dir!

„Jch kan nicht aufſtehen. Jch muß meiner
„Mutter ungehorſam werden, wenn ſie mir be-
„fielt, von ihr zu gehen, ehe ſie mir vergeben
„hat. Hier iſt kein murriſches Weſen! Keine
„Unart! ſondern etwas ſchlimmers, nemlich
„offenbarer Ungehorſam. Sie koͤnnen ſich
„nicht von mir losreiſſen.„ (Jch umfaſſete ſie
im knien, und ſie wollte ſich losmachen. Mein
Geſicht hielt ich in die Hoͤhe, und ſahe ſie mit
weinenden Augen an, die gewiß die Sprache

mei-
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="2">
        <p><pb facs="#f0223" n="203"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b"><hi rendition="#g">der Clari&#x017F;&#x017F;a.</hi></hi></fw><lb/>
den. Sie kehrte mir den Ru&#x0364;cken zu, und rief<lb/>
mit Hefftigkeit: <hi rendition="#fr">wo nun hin/ Clari&#x017F;&#x017F;a</hi> H<hi rendition="#fr">ar-<lb/>
lowe?</hi></p><lb/>
        <p> <hi rendition="#fr">Sie befohlen mir ja/ auf meine Stube<lb/>
zu gehen.</hi> </p><lb/>
        <p> <hi rendition="#fr">Jch finde dich &#x017F;ehr bereitwillig/ da<lb/>
wegzugehen/ wo ich bin. Ge&#x017F;chieht es<lb/>
aus Trotz/ oder aus Gehor&#x017F;am? Du bi&#x017F;t<lb/>
&#x017F;ebr willfa&#x0364;hrig/ mich zu verla&#x017F;&#x017F;en.</hi> </p><lb/>
        <p>Jch konnte mich nicht la&#x0364;nger halten, &#x017F;ondern<lb/>
mu&#x017F;te mich zu ihren Fu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en werfen: <hi rendition="#fr">Meine al-<lb/>
lerlieb&#x017F;te Mutter/ &#x017F;agen &#x017F;ie mir zum vor-<lb/>
aus/ was ich alles leiden/ und was aus mir<lb/>
werden &#x017F;oll. Jch will es ertragen/ wenn<lb/>
ich es nur ertragen kan: aber das i&#x017F;t mir<lb/>
unertra&#x0364;glich/ wenn &#x017F;ie auf mich unwillig<lb/>
&#x017F;ind.</hi></p><lb/>
        <p>&#x201E;Laß mich allein, <hi rendition="#fr">Clari&#x017F;&#x017F;a</hi> H<hi rendition="#fr">arlowe!</hi> Kein<lb/>
&#x201E;knien kan ich leiden! was fu&#x0364;r beug&#x017F;ame Ge-<lb/>
&#x201E;lencke, und was fu&#x0364;r ein unbeug&#x017F;ames Hertz!<lb/>
Stehe auf, das &#x017F;age ich dir!</p><lb/>
        <p>&#x201E;Jch kan nicht auf&#x017F;tehen. Jch muß meiner<lb/>
&#x201E;Mutter ungehor&#x017F;am werden, wenn &#x017F;ie mir be-<lb/>
&#x201E;fielt, von ihr zu gehen, ehe &#x017F;ie mir vergeben<lb/>
&#x201E;hat. Hier i&#x017F;t kein murri&#x017F;ches We&#x017F;en! Keine<lb/>
&#x201E;Unart! &#x017F;ondern etwas &#x017F;chlimmers, nemlich<lb/>
&#x201E;offenbarer Ungehor&#x017F;am. Sie ko&#x0364;nnen &#x017F;ich<lb/>
&#x201E;nicht von mir losrei&#x017F;&#x017F;en.&#x201E; (Jch umfa&#x017F;&#x017F;ete &#x017F;ie<lb/>
im knien, und &#x017F;ie wollte &#x017F;ich losmachen. Mein<lb/>
Ge&#x017F;icht hielt ich in die Ho&#x0364;he, und &#x017F;ahe &#x017F;ie mit<lb/>
weinenden Augen an, die gewiß die Sprache<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">mei-</fw><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[203/0223] der Clariſſa. den. Sie kehrte mir den Ruͤcken zu, und rief mit Hefftigkeit: wo nun hin/ Clariſſa Har- lowe? Sie befohlen mir ja/ auf meine Stube zu gehen. Jch finde dich ſehr bereitwillig/ da wegzugehen/ wo ich bin. Geſchieht es aus Trotz/ oder aus Gehorſam? Du biſt ſebr willfaͤhrig/ mich zu verlaſſen. Jch konnte mich nicht laͤnger halten, ſondern muſte mich zu ihren Fuͤſſen werfen: Meine al- lerliebſte Mutter/ ſagen ſie mir zum vor- aus/ was ich alles leiden/ und was aus mir werden ſoll. Jch will es ertragen/ wenn ich es nur ertragen kan: aber das iſt mir unertraͤglich/ wenn ſie auf mich unwillig ſind. „Laß mich allein, Clariſſa Harlowe! Kein „knien kan ich leiden! was fuͤr beugſame Ge- „lencke, und was fuͤr ein unbeugſames Hertz! Stehe auf, das ſage ich dir! „Jch kan nicht aufſtehen. Jch muß meiner „Mutter ungehorſam werden, wenn ſie mir be- „fielt, von ihr zu gehen, ehe ſie mir vergeben „hat. Hier iſt kein murriſches Weſen! Keine „Unart! ſondern etwas ſchlimmers, nemlich „offenbarer Ungehorſam. Sie koͤnnen ſich „nicht von mir losreiſſen.„ (Jch umfaſſete ſie im knien, und ſie wollte ſich losmachen. Mein Geſicht hielt ich in die Hoͤhe, und ſahe ſie mit weinenden Augen an, die gewiß die Sprache mei-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa01_1748
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa01_1748/223
Zitationshilfe: [Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 1. Göttingen, 1748, S. 203. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa01_1748/223>, abgerufen am 24.11.2024.