ohnmöglich vorstellen, wie sehr ihm meine gantze Seele zuwider ist. Und sie wollen von einem ge- schlossenen Ehe-Contract reden! von Proben! von einem nahe bevorstehenden Tage! Liebste Mutter retten sie ihr Kind von diesem grossen und unerträglichen Unglück!
Es kan der Kummer nicht lebendiger abgemahlt werden, als er sich in ihrem Gesicht zeigete, ob- gleich sie ihn zu verbergen und an dessen statt ei- ne eine zornige Gebärde anzunehmen suchte. Die- se behielt endlich den Platz in ihrem Gesichte; sie wandte die Augen gen Himmel, trat hart auf den Boden, und kehrte mir mit den Worten: eine unerhörte Verkehrtheit! den Rücken zu. Jch ergriff sie bey dem Rocke, und ich glaube, daß ich beynahe ausgesehen haben muß, als wenn ich unsinnig wäre. Haben sie doch Geduld mit mir, liebste Mutter: sagte ich. Verlassen sie mich nicht gäntzlich! Wenn sie sich ja von ihrem Kinde trennen müssen, so bitte ich, daß sie mir ihr Hertz, so viel an ihnen ist, nicht schlechterdings entziehen. Meine Onkles mögen immerhin hart, und mein Vater unerbittlich seyn! Meines Bruders hoch- müthige Absichten, und der Neid meiner Schwe- ster mag mein Leiden immerhin vergrössern! Wenn ich mich nur meiner Mutter Liebe, oder wenigstens ihres Mitleydens getrösten kan.
Sie kehrte sich mit einem freundlicherem Ge- sichte zu mir, und sagte: Du hast alle meine Liebe! du hast alles mein Mitleiden. Al- lein/ gutes Mädchen/ ich habe deine Liebe und dein Mitleiden nicht.
Wahr-
Die Geſchichte
ohnmoͤglich vorſtellen, wie ſehr ihm meine gantze Seele zuwider iſt. Und ſie wollen von einem ge- ſchloſſenen Ehe-Contract reden! von Proben! von einem nahe bevorſtehenden Tage! Liebſte Mutter retten ſie ihr Kind von dieſem groſſen und unertraͤglichen Ungluͤck!
Es kan der Kummer nicht lebendiger abgemahlt werden, als er ſich in ihrem Geſicht zeigete, ob- gleich ſie ihn zu verbergen und an deſſen ſtatt ei- ne eine zornige Gebaͤrde anzunehmen ſuchte. Die- ſe behielt endlich den Platz in ihrem Geſichte; ſie wandte die Augen gen Himmel, trat hart auf den Boden, und kehrte mir mit den Worten: eine unerhoͤrte Verkehrtheit! den Ruͤcken zu. Jch ergriff ſie bey dem Rocke, und ich glaube, daß ich beynahe ausgeſehen haben muß, als wenn ich unſinnig waͤre. Haben ſie doch Geduld mit mir, liebſte Mutter: ſagte ich. Verlaſſen ſie mich nicht gaͤntzlich! Wenn ſie ſich ja von ihrem Kinde trennen muͤſſen, ſo bitte ich, daß ſie mir ihr Hertz, ſo viel an ihnen iſt, nicht ſchlechterdings entziehen. Meine Onkles moͤgen immerhin hart, und mein Vater unerbittlich ſeyn! Meines Bruders hoch- muͤthige Abſichten, und der Neid meiner Schwe- ſter mag mein Leiden immerhin vergroͤſſern! Wenn ich mich nur meiner Mutter Liebe, oder wenigſtens ihres Mitleydens getroͤſten kan.
Sie kehrte ſich mit einem freundlicherem Ge- ſichte zu mir, und ſagte: Du haſt alle meine Liebe! du haſt alles mein Mitleiden. Al- lein/ gutes Maͤdchen/ ich habe deine Liebe und dein Mitleiden nicht.
Wahr-
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Die Geſchichte
ohnmoͤglich vorſtellen, wie ſehr ihm meine gantze
Seele zuwider iſt. Und ſie wollen von einem ge-
ſchloſſenen Ehe-Contract reden! von Proben!
von einem nahe bevorſtehenden Tage! Liebſte
Mutter retten ſie ihr Kind von dieſem groſſen
und unertraͤglichen Ungluͤck!
Es kan der Kummer nicht lebendiger abgemahlt
werden, als er ſich in ihrem Geſicht zeigete, ob-
gleich ſie ihn zu verbergen und an deſſen ſtatt ei-
ne eine zornige Gebaͤrde anzunehmen ſuchte. Die-
ſe behielt endlich den Platz in ihrem Geſichte; ſie
wandte die Augen gen Himmel, trat hart auf den
Boden, und kehrte mir mit den Worten: eine
unerhoͤrte Verkehrtheit! den Ruͤcken zu. Jch
ergriff ſie bey dem Rocke, und ich glaube, daß
ich beynahe ausgeſehen haben muß, als wenn ich
unſinnig waͤre. Haben ſie doch Geduld mit mir,
liebſte Mutter: ſagte ich. Verlaſſen ſie mich
nicht gaͤntzlich! Wenn ſie ſich ja von ihrem Kinde
trennen muͤſſen, ſo bitte ich, daß ſie mir ihr Hertz,
ſo viel an ihnen iſt, nicht ſchlechterdings entziehen.
Meine Onkles moͤgen immerhin hart, und mein
Vater unerbittlich ſeyn! Meines Bruders hoch-
muͤthige Abſichten, und der Neid meiner Schwe-
ſter mag mein Leiden immerhin vergroͤſſern!
Wenn ich mich nur meiner Mutter Liebe, oder
wenigſtens ihres Mitleydens getroͤſten kan.
Sie kehrte ſich mit einem freundlicherem Ge-
ſichte zu mir, und ſagte: Du haſt alle meine
Liebe! du haſt alles mein Mitleiden. Al-
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[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 1. Göttingen, 1748, S. 228. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa01_1748/248>, abgerufen am 21.11.2024.
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