Der junge Herr gefiel ihr bey seinem nächsten Besuch noch besser. Und dennoch machte er sich nicht eben insbesondere viel mit ihr zu thun, ob ihm gleich Gelegenheit dazu gegeben ward. Man wunderte sich zwar hierüber, weil mein Vaters- Bruder, der ihm den ersten Zugang in unser Haus verschaffet hatte, deutlich gesaget hatte, daß er meine Schwester besuchen wollte. Doch unsere Eigenliebe macht uns immer sehr willfährig, den Schein des Kaltsinns bey solchen Personen zu ent- schuldigen, denen wir gern gefallen möchten. Meine Schwester entdeckte auch eine für Herrn Lovelace sehr rühmliche Ursache, warum er sich der gegebenen Gelegenheit so wenig bedienete. Jn der That er war zu blöde, (dencken Sie ein- mahl: Herr Lovelace soll blöde seyn) Jch muß bekennen, daß ob er gleich munter und lebhaft ist, er doch nichts unverschämtes im Gesichte hat: aber die Zeit muß wohl längstens vorbey seyn, da er blöde gewesen ist.
Doch auf diese Weise konnte meine Schwester damit fertig werden. "Auf ihr Wort, sie glaub- "te, daß Herr Lovelace die üble Nachrede "in Absicht seiner Aufführung gegen die Frauens- "Leute nicht verdiene. Er war ihrer Meynung "nach ein sehr wohlgesitteter Herr. Sie glaub- "te er hätte gern seine Meynung frey heraus "gesagt: aber ein oder zweymahl, da er das "Wort schon auf der Zunge hatte, gerieth er in "eine so liebenswürdige Verwirrung, er schien "ihr tiefe Hochachtung, und vollkommene Ehr-
erbie-
Die Geſchichte
Der junge Herr gefiel ihr bey ſeinem naͤchſten Beſuch noch beſſer. Und dennoch machte er ſich nicht eben insbeſondere viel mit ihr zu thun, ob ihm gleich Gelegenheit dazu gegeben ward. Man wunderte ſich zwar hieruͤber, weil mein Vaters- Bruder, der ihm den erſten Zugang in unſer Haus verſchaffet hatte, deutlich geſaget hatte, daß er meine Schweſter beſuchen wollte. Doch unſere Eigenliebe macht uns immer ſehr willfaͤhrig, den Schein des Kaltſinns bey ſolchen Perſonen zu ent- ſchuldigen, denen wir gern gefallen moͤchten. Meine Schweſter entdeckte auch eine fuͤr Herrn Lovelace ſehr ruͤhmliche Urſache, warum er ſich der gegebenen Gelegenheit ſo wenig bedienete. Jn der That er war zu bloͤde, (dencken Sie ein- mahl: Herr Lovelace ſoll bloͤde ſeyn) Jch muß bekennen, daß ob er gleich munter und lebhaft iſt, er doch nichts unverſchaͤmtes im Geſichte hat: aber die Zeit muß wohl laͤngſtens vorbey ſeyn, da er bloͤde geweſen iſt.
Doch auf dieſe Weiſe konnte meine Schweſter damit fertig werden. „Auf ihr Wort, ſie glaub- „te, daß Herr Lovelace die uͤble Nachrede „in Abſicht ſeiner Auffuͤhrung gegen die Frauens- „Leute nicht verdiene. Er war ihrer Meynung „nach ein ſehr wohlgeſitteter Herr. Sie glaub- „te er haͤtte gern ſeine Meynung frey heraus „geſagt: aber ein oder zweymahl, da er das „Wort ſchon auf der Zunge hatte, gerieth er in „eine ſo liebenswuͤrdige Verwirrung, er ſchien „ihr tiefe Hochachtung, und vollkommene Ehr-
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Die Geſchichte
Der junge Herr gefiel ihr bey ſeinem naͤchſten
Beſuch noch beſſer. Und dennoch machte er ſich
nicht eben insbeſondere viel mit ihr zu thun, ob
ihm gleich Gelegenheit dazu gegeben ward. Man
wunderte ſich zwar hieruͤber, weil mein Vaters-
Bruder, der ihm den erſten Zugang in unſer Haus
verſchaffet hatte, deutlich geſaget hatte, daß er
meine Schweſter beſuchen wollte. Doch unſere
Eigenliebe macht uns immer ſehr willfaͤhrig, den
Schein des Kaltſinns bey ſolchen Perſonen zu ent-
ſchuldigen, denen wir gern gefallen moͤchten.
Meine Schweſter entdeckte auch eine fuͤr Herrn
Lovelace ſehr ruͤhmliche Urſache, warum er ſich
der gegebenen Gelegenheit ſo wenig bedienete. Jn
der That er war zu bloͤde, (dencken Sie ein-
mahl: Herr Lovelace ſoll bloͤde ſeyn) Jch muß
bekennen, daß ob er gleich munter und lebhaft iſt,
er doch nichts unverſchaͤmtes im Geſichte hat:
aber die Zeit muß wohl laͤngſtens vorbey ſeyn, da
er bloͤde geweſen iſt.
Doch auf dieſe Weiſe konnte meine Schweſter
damit fertig werden. „Auf ihr Wort, ſie glaub-
„te, daß Herr Lovelace die uͤble Nachrede
„in Abſicht ſeiner Auffuͤhrung gegen die Frauens-
„Leute nicht verdiene. Er war ihrer Meynung
„nach ein ſehr wohlgeſitteter Herr. Sie glaub-
„te er haͤtte gern ſeine Meynung frey heraus
„geſagt: aber ein oder zweymahl, da er das
„Wort ſchon auf der Zunge hatte, gerieth er in
„eine ſo liebenswuͤrdige Verwirrung, er ſchien
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[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 1. Göttingen, 1748, S. 12. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa01_1748/32>, abgerufen am 23.11.2024.
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