Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 1. Göttingen, 1748.

Bild:
<< vorherige Seite
Die Geschichte

Es kommt mir kein Schlaaf in die Augen,
und ob es gleich jetzt Mitternacht ist, so
will ich doch den Brieff fortsetzen, den ich so un-
vermuthet abbrechen muste, um den Befehl, den
Sie nebst den Fräuleins Lloyd Campion und
Biddulph mir gegeben haben, so gut zu erfül-
len, als es meine Zerstreuung zuläßt.

Um die schwere Beschuldigung zu widerlegen,
daß ich gegen eine so werthe Freundin versteckt seyn
soll bekenne ich, was ich schon mehr als einmahl
bekant habe, daß meine verworrene Umstände wol
verursachen können, daß mir Herr Lovelace er-
träglich vorkommt: alleine keine andere als die ge-
meldete Ursache liegt zum Grunde. Hätten ihm
die Meinigen einen Mann entgegen gesetzt, der
Verstand, Tugend, und ein edles Hertz hätte, der
Ehre bey seinem Vermögen gehabt hätte, und so
viel Zärtlichkeit und Mitleyden mit der Noth an-
derer, daß ich hätte hoffen können, meine Gefäl-
ligkeiten mit Danckbarkeit belohnt zu sehen:
hätten sie, sage ich ihm einen solchen Mann mit
eben dem Ernst als Solmesen entgegen gesetzt:
so würden sie, (wo ich mich kenne) jetzt nicht Ursa-
che haben, sich über meinen Eigensinn zu beschwe-
ren, das äusserliche Ansehen des Mannes möchte
auch noch so schlecht gewesen seyn. Denn ich
glaube, daß ein Frauenzimmer auf das Hertz sei-
nes Freyers sehen müsse, weil ihr dieses allein ge-
gründete Hoffnung geben kann, daß sie in allen
Umständen vergnügt mit ihm leben werde.

Jch
Die Geſchichte

Es kommt mir kein Schlaaf in die Augen,
und ob es gleich jetzt Mitternacht iſt, ſo
will ich doch den Brieff fortſetzen, den ich ſo un-
vermuthet abbrechen muſte, um den Befehl, den
Sie nebſt den Fraͤuleins Lloyd Campion und
Biddulph mir gegeben haben, ſo gut zu erfuͤl-
len, als es meine Zerſtreuung zulaͤßt.

Um die ſchwere Beſchuldigung zu widerlegen,
daß ich gegen eine ſo werthe Freundin verſteckt ſeyn
ſoll bekenne ich, was ich ſchon mehr als einmahl
bekant habe, daß meine verworrene Umſtaͤnde wol
verurſachen koͤnnen, daß mir Herr Lovelace er-
traͤglich vorkommt: alleine keine andere als die ge-
meldete Urſache liegt zum Grunde. Haͤtten ihm
die Meinigen einen Mann entgegen geſetzt, der
Verſtand, Tugend, und ein edles Hertz haͤtte, der
Ehre bey ſeinem Vermoͤgen gehabt haͤtte, und ſo
viel Zaͤrtlichkeit und Mitleyden mit der Noth an-
derer, daß ich haͤtte hoffen koͤnnen, meine Gefaͤl-
ligkeiten mit Danckbarkeit belohnt zu ſehen:
haͤtten ſie, ſage ich ihm einen ſolchen Mann mit
eben dem Ernſt als Solmeſen entgegen geſetzt:
ſo wuͤrden ſie, (wo ich mich kenne) jetzt nicht Urſa-
che haben, ſich uͤber meinen Eigenſinn zu beſchwe-
ren, das aͤuſſerliche Anſehen des Mannes moͤchte
auch noch ſo ſchlecht geweſen ſeyn. Denn ich
glaube, daß ein Frauenzimmer auf das Hertz ſei-
nes Freyers ſehen muͤſſe, weil ihr dieſes allein ge-
gruͤndete Hoffnung geben kann, daß ſie in allen
Umſtaͤnden vergnuͤgt mit ihm leben werde.

Jch
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="2">
        <pb facs="#f0466" n="446"/>
        <fw place="top" type="header"> <hi rendition="#b"> <hi rendition="#g">Die Ge&#x017F;chichte</hi> </hi> </fw><lb/>
        <p><hi rendition="#in">E</hi>s kommt mir kein Schlaaf in die Augen,<lb/>
und ob es gleich jetzt Mitternacht i&#x017F;t, &#x017F;o<lb/>
will ich doch den Brieff fort&#x017F;etzen, den ich &#x017F;o un-<lb/>
vermuthet abbrechen mu&#x017F;te, um den Befehl, den<lb/>
Sie neb&#x017F;t den Fra&#x0364;uleins L<hi rendition="#fr">loyd Campion</hi> und<lb/><hi rendition="#fr">Biddulph</hi> mir gegeben haben, &#x017F;o gut zu erfu&#x0364;l-<lb/>
len, als es meine Zer&#x017F;treuung zula&#x0364;ßt.</p><lb/>
        <p>Um die &#x017F;chwere Be&#x017F;chuldigung zu widerlegen,<lb/>
daß ich gegen eine &#x017F;o werthe Freundin ver&#x017F;teckt &#x017F;eyn<lb/>
&#x017F;oll bekenne ich, was ich &#x017F;chon mehr als einmahl<lb/>
bekant habe, daß meine verworrene Um&#x017F;ta&#x0364;nde wol<lb/>
verur&#x017F;achen ko&#x0364;nnen, daß mir Herr <hi rendition="#fr">Lovelace</hi> er-<lb/>
tra&#x0364;glich vorkommt: alleine keine andere als die ge-<lb/>
meldete Ur&#x017F;ache liegt zum Grunde. Ha&#x0364;tten ihm<lb/>
die Meinigen einen Mann entgegen ge&#x017F;etzt, der<lb/>
Ver&#x017F;tand, Tugend, und ein edles Hertz ha&#x0364;tte, der<lb/>
Ehre bey &#x017F;einem Vermo&#x0364;gen gehabt ha&#x0364;tte, und &#x017F;o<lb/>
viel Za&#x0364;rtlichkeit und Mitleyden mit der Noth an-<lb/>
derer, daß ich ha&#x0364;tte hoffen ko&#x0364;nnen, meine Gefa&#x0364;l-<lb/>
ligkeiten mit Danckbarkeit belohnt zu &#x017F;ehen:<lb/>
ha&#x0364;tten &#x017F;ie, &#x017F;age ich ihm einen &#x017F;olchen Mann mit<lb/>
eben dem Ern&#x017F;t als <hi rendition="#fr">Solme&#x017F;en</hi> entgegen ge&#x017F;etzt:<lb/>
&#x017F;o wu&#x0364;rden &#x017F;ie, (wo ich mich kenne) jetzt nicht Ur&#x017F;a-<lb/>
che haben, &#x017F;ich u&#x0364;ber meinen Eigen&#x017F;inn zu be&#x017F;chwe-<lb/>
ren, das a&#x0364;u&#x017F;&#x017F;erliche An&#x017F;ehen des Mannes mo&#x0364;chte<lb/>
auch noch &#x017F;o &#x017F;chlecht gewe&#x017F;en &#x017F;eyn. Denn ich<lb/>
glaube, daß ein Frauenzimmer auf das Hertz &#x017F;ei-<lb/>
nes Freyers &#x017F;ehen mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;e, weil ihr die&#x017F;es allein ge-<lb/>
gru&#x0364;ndete Hoffnung geben kann, daß &#x017F;ie in allen<lb/>
Um&#x017F;ta&#x0364;nden vergnu&#x0364;gt mit ihm leben werde.</p><lb/>
        <fw place="bottom" type="catch">Jch</fw><lb/>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[446/0466] Die Geſchichte Es kommt mir kein Schlaaf in die Augen, und ob es gleich jetzt Mitternacht iſt, ſo will ich doch den Brieff fortſetzen, den ich ſo un- vermuthet abbrechen muſte, um den Befehl, den Sie nebſt den Fraͤuleins Lloyd Campion und Biddulph mir gegeben haben, ſo gut zu erfuͤl- len, als es meine Zerſtreuung zulaͤßt. Um die ſchwere Beſchuldigung zu widerlegen, daß ich gegen eine ſo werthe Freundin verſteckt ſeyn ſoll bekenne ich, was ich ſchon mehr als einmahl bekant habe, daß meine verworrene Umſtaͤnde wol verurſachen koͤnnen, daß mir Herr Lovelace er- traͤglich vorkommt: alleine keine andere als die ge- meldete Urſache liegt zum Grunde. Haͤtten ihm die Meinigen einen Mann entgegen geſetzt, der Verſtand, Tugend, und ein edles Hertz haͤtte, der Ehre bey ſeinem Vermoͤgen gehabt haͤtte, und ſo viel Zaͤrtlichkeit und Mitleyden mit der Noth an- derer, daß ich haͤtte hoffen koͤnnen, meine Gefaͤl- ligkeiten mit Danckbarkeit belohnt zu ſehen: haͤtten ſie, ſage ich ihm einen ſolchen Mann mit eben dem Ernſt als Solmeſen entgegen geſetzt: ſo wuͤrden ſie, (wo ich mich kenne) jetzt nicht Urſa- che haben, ſich uͤber meinen Eigenſinn zu beſchwe- ren, das aͤuſſerliche Anſehen des Mannes moͤchte auch noch ſo ſchlecht geweſen ſeyn. Denn ich glaube, daß ein Frauenzimmer auf das Hertz ſei- nes Freyers ſehen muͤſſe, weil ihr dieſes allein ge- gruͤndete Hoffnung geben kann, daß ſie in allen Umſtaͤnden vergnuͤgt mit ihm leben werde. Jch

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa01_1748
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa01_1748/466
Zitationshilfe: [Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 1. Göttingen, 1748, S. 446. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa01_1748/466>, abgerufen am 24.11.2024.