Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 1. Göttingen, 1748.

Bild:
<< vorherige Seite

Die Geschichte
schlecht, welches am meisten Ursache hat, seinen
Ruhm nicht in der Gestalt sondern in den Vorzü-
gen des Gemüths zu setzen. Denn was unser Ge-
schlecht anbetrifft, so wird die Welt ein schönes
Frauenzimmer doch immer entschuldigen, wenn es
sich durch das Lob der Welt zur Eitelkeit und zum
Hochmuth verleiten läßt, und weniger bekümmert
ist, die dauerhafteren Vorzüge des Gemüths zu
erlangen. Denn, ich weiß nicht wie es zugehet,
eine schöne Thörin gefällt uns doch in allem was
sie thut und redet wohl.

Wer wollte einer solchen artigen kleinen Thörin
ihre kurtze Zeit des Vergnügens verderben! Jhr
Sommer, indem sie wie ein Butter-Vogel pran-
get, läufft doch mehr als zu bald zum Ende, und
es folgt darauf ihr Winter, indem sie durch Al-
ter und Runtzeln ungestalt wird, und es empfindet,
daß sie ihren edelsten Theil nicht geschmücket hat.
Alsdenn wird ihr der Spiegel ein unerträglicher
Tadler werden; und wenn sie weiter nichts ist
als eine alte Frau, so wird sie alle Verachtungen,
die einem bey diesem Nahmen einfallen, auszuste-
hen haben. Bey einem verständigen Frauenzim-
mer hingegen, das Tugend, Klugheit und nützli-
che Erfahrung in die spätern Jahre des Lebens
mitnimmt, trit eine wahrhafte Ehrfurcht an die
Stelle der Bewunderung, die es vorhin genossen
hatte, und ersetzt allen Verlust überflüßig.

Wie weibisch läßt es für eine Manns-Person,
wenn sie sich etwas auf ihre Gestalt einbildet?
Wenn ein solcher Mensch Gemüths-Gaben hat, so

pflegt

Die Geſchichte
ſchlecht, welches am meiſten Urſache hat, ſeinen
Ruhm nicht in der Geſtalt ſondern in den Vorzuͤ-
gen des Gemuͤths zu ſetzen. Denn was unſer Ge-
ſchlecht anbetrifft, ſo wird die Welt ein ſchoͤnes
Frauenzimmer doch immer entſchuldigen, wenn es
ſich durch das Lob der Welt zur Eitelkeit und zum
Hochmuth verleiten laͤßt, und weniger bekuͤmmert
iſt, die dauerhafteren Vorzuͤge des Gemuͤths zu
erlangen. Denn, ich weiß nicht wie es zugehet,
eine ſchoͤne Thoͤrin gefaͤllt uns doch in allem was
ſie thut und redet wohl.

Wer wollte einer ſolchen artigen kleinen Thoͤrin
ihre kurtze Zeit des Vergnuͤgens verderben! Jhr
Sommer, indem ſie wie ein Butter-Vogel pran-
get, laͤufft doch mehr als zu bald zum Ende, und
es folgt darauf ihr Winter, indem ſie durch Al-
ter und Runtzeln ungeſtalt wird, und es empfindet,
daß ſie ihren edelſten Theil nicht geſchmuͤcket hat.
Alsdenn wird ihr der Spiegel ein unertraͤglicher
Tadler werden; und wenn ſie weiter nichts iſt
als eine alte Frau, ſo wird ſie alle Verachtungen,
die einem bey dieſem Nahmen einfallen, auszuſte-
hen haben. Bey einem verſtaͤndigen Frauenzim-
mer hingegen, das Tugend, Klugheit und nuͤtzli-
che Erfahrung in die ſpaͤtern Jahre des Lebens
mitnimmt, trit eine wahrhafte Ehrfurcht an die
Stelle der Bewunderung, die es vorhin genoſſen
hatte, und erſetzt allen Verluſt uͤberfluͤßig.

Wie weibiſch laͤßt es fuͤr eine Manns-Perſon,
wenn ſie ſich etwas auf ihre Geſtalt einbildet?
Wenn ein ſolcher Menſch Gemuͤths-Gaben hat, ſo

pflegt
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="2">
        <p><pb facs="#f0482" n="462"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b"><hi rendition="#g">Die Ge&#x017F;chichte</hi></hi></fw><lb/>
&#x017F;chlecht, welches am mei&#x017F;ten Ur&#x017F;ache hat, &#x017F;einen<lb/>
Ruhm nicht in der Ge&#x017F;talt &#x017F;ondern in den Vorzu&#x0364;-<lb/>
gen des Gemu&#x0364;ths zu &#x017F;etzen. Denn was un&#x017F;er Ge-<lb/>
&#x017F;chlecht anbetrifft, &#x017F;o wird die Welt ein &#x017F;cho&#x0364;nes<lb/>
Frauenzimmer doch immer ent&#x017F;chuldigen, wenn es<lb/>
&#x017F;ich durch das Lob der Welt zur Eitelkeit und zum<lb/>
Hochmuth verleiten la&#x0364;ßt, und weniger beku&#x0364;mmert<lb/>
i&#x017F;t, die dauerhafteren Vorzu&#x0364;ge des Gemu&#x0364;ths zu<lb/>
erlangen. Denn, ich weiß nicht wie es zugehet,<lb/>
eine &#x017F;cho&#x0364;ne Tho&#x0364;rin gefa&#x0364;llt uns doch in allem was<lb/>
&#x017F;ie thut und redet wohl.</p><lb/>
        <p>Wer wollte einer &#x017F;olchen artigen kleinen Tho&#x0364;rin<lb/>
ihre kurtze Zeit des Vergnu&#x0364;gens verderben! Jhr<lb/>
Sommer, indem &#x017F;ie wie ein Butter-Vogel pran-<lb/>
get, la&#x0364;ufft doch mehr als zu bald zum Ende, und<lb/>
es folgt darauf ihr Winter, indem &#x017F;ie durch Al-<lb/>
ter und Runtzeln unge&#x017F;talt wird, und es empfindet,<lb/>
daß &#x017F;ie ihren edel&#x017F;ten Theil nicht ge&#x017F;chmu&#x0364;cket hat.<lb/>
Alsdenn wird ihr der Spiegel ein unertra&#x0364;glicher<lb/>
Tadler werden; und wenn &#x017F;ie <hi rendition="#fr">weiter nichts</hi> i&#x017F;t<lb/>
als eine <hi rendition="#fr">alte Frau,</hi> &#x017F;o wird &#x017F;ie alle Verachtungen,<lb/>
die einem bey die&#x017F;em Nahmen einfallen, auszu&#x017F;te-<lb/>
hen haben. Bey einem ver&#x017F;ta&#x0364;ndigen Frauenzim-<lb/>
mer hingegen, das Tugend, Klugheit und nu&#x0364;tzli-<lb/>
che Erfahrung in die &#x017F;pa&#x0364;tern Jahre des Lebens<lb/>
mitnimmt, trit eine wahrhafte Ehrfurcht an die<lb/>
Stelle der Bewunderung, die es vorhin geno&#x017F;&#x017F;en<lb/>
hatte, und er&#x017F;etzt allen Verlu&#x017F;t u&#x0364;berflu&#x0364;ßig.</p><lb/>
        <p>Wie weibi&#x017F;ch la&#x0364;ßt es fu&#x0364;r eine Manns-Per&#x017F;on,<lb/>
wenn &#x017F;ie &#x017F;ich etwas auf ihre Ge&#x017F;talt einbildet?<lb/>
Wenn ein &#x017F;olcher Men&#x017F;ch Gemu&#x0364;ths-Gaben hat, &#x017F;o<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">pflegt</fw><lb/></p>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[462/0482] Die Geſchichte ſchlecht, welches am meiſten Urſache hat, ſeinen Ruhm nicht in der Geſtalt ſondern in den Vorzuͤ- gen des Gemuͤths zu ſetzen. Denn was unſer Ge- ſchlecht anbetrifft, ſo wird die Welt ein ſchoͤnes Frauenzimmer doch immer entſchuldigen, wenn es ſich durch das Lob der Welt zur Eitelkeit und zum Hochmuth verleiten laͤßt, und weniger bekuͤmmert iſt, die dauerhafteren Vorzuͤge des Gemuͤths zu erlangen. Denn, ich weiß nicht wie es zugehet, eine ſchoͤne Thoͤrin gefaͤllt uns doch in allem was ſie thut und redet wohl. Wer wollte einer ſolchen artigen kleinen Thoͤrin ihre kurtze Zeit des Vergnuͤgens verderben! Jhr Sommer, indem ſie wie ein Butter-Vogel pran- get, laͤufft doch mehr als zu bald zum Ende, und es folgt darauf ihr Winter, indem ſie durch Al- ter und Runtzeln ungeſtalt wird, und es empfindet, daß ſie ihren edelſten Theil nicht geſchmuͤcket hat. Alsdenn wird ihr der Spiegel ein unertraͤglicher Tadler werden; und wenn ſie weiter nichts iſt als eine alte Frau, ſo wird ſie alle Verachtungen, die einem bey dieſem Nahmen einfallen, auszuſte- hen haben. Bey einem verſtaͤndigen Frauenzim- mer hingegen, das Tugend, Klugheit und nuͤtzli- che Erfahrung in die ſpaͤtern Jahre des Lebens mitnimmt, trit eine wahrhafte Ehrfurcht an die Stelle der Bewunderung, die es vorhin genoſſen hatte, und erſetzt allen Verluſt uͤberfluͤßig. Wie weibiſch laͤßt es fuͤr eine Manns-Perſon, wenn ſie ſich etwas auf ihre Geſtalt einbildet? Wenn ein ſolcher Menſch Gemuͤths-Gaben hat, ſo pflegt

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa01_1748
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa01_1748/482
Zitationshilfe: [Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 1. Göttingen, 1748, S. 462. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa01_1748/482>, abgerufen am 24.11.2024.