Sie können sich kaum vorstellen, was der Mensch für ein trotzig Gesicht machte, nicht an- ders, als wenn es ihn verdrösse, daß ich nicht mehr durch ihn gerühret wäre; und was es ihm für einen augenscheinlichen Kampf kostete, seine hochmüthigen Geberden bescheidener und sanfter zu machen, als er wieder zu sich selbst kam; wel- ches so gleich geschah. Allein ich that als merkte ich beydes nicht: denn ich hielt für das beste, ihn durch meine Kaltsinnigkeit und Gleichgültigkeit, damit ich seine frühzeitige Hofnung abwieß, und zugleich den Schein des Hochmuths zu vermeiden suchte, zu überzeugen, daß er bey mir noch nicht hoch genug angesehen sey, mich über seine Worte oder Geberden zu ärgern, oder mit andern Wor- ten, daß ich ihn nicht werth genug schätzete, durch ein lächelndes oder saures Gesichte ihn von an- dern zu unterscheiden. Er hatte in der That so viel Verstand, daß er mir einmahl, obgleich ohne seinen Vorsatz, einen Unterricht gab, durch den ich behutsamer ward. Deun er sagte bey einer gewissen Gelegenheit: wenn eine Manns-Person ein Frauenzimmer nicht zu dem bekänntniß bringen könnte, daß sie eine Neigung gegen ihn habe, so habe man doch eben so viel und oft noch mehr gewonnen, wenn man sie böse machte. Jch muß hier abbrechen: ich werde aber meine Erzehlung, so bald es mir möglich ist, fortsetzen. Jndessen verharre ich
Dero ergebenste Dienerin C. Harlowe.
Die Geſchichte
Sie koͤnnen ſich kaum vorſtellen, was der Menſch fuͤr ein trotzig Geſicht machte, nicht an- ders, als wenn es ihn verdroͤſſe, daß ich nicht mehr durch ihn geruͤhret waͤre; und was es ihm fuͤr einen augenſcheinlichen Kampf koſtete, ſeine hochmuͤthigen Geberden beſcheidener und ſanfter zu machen, als er wieder zu ſich ſelbſt kam; wel- ches ſo gleich geſchah. Allein ich that als merkte ich beydes nicht: denn ich hielt fuͤr das beſte, ihn durch meine Kaltſinnigkeit und Gleichguͤltigkeit, damit ich ſeine fruͤhzeitige Hofnung abwieß, und zugleich den Schein des Hochmuths zu vermeiden ſuchte, zu uͤberzeugen, daß er bey mir noch nicht hoch genug angeſehen ſey, mich uͤber ſeine Worte oder Geberden zu aͤrgern, oder mit andern Wor- ten, daß ich ihn nicht werth genug ſchaͤtzete, durch ein laͤchelndes oder ſaures Geſichte ihn von an- dern zu unterſcheiden. Er hatte in der That ſo viel Verſtand, daß er mir einmahl, obgleich ohne ſeinen Vorſatz, einen Unterricht gab, durch den ich behutſamer ward. Deun er ſagte bey einer gewiſſen Gelegenheit: wenn eine Manns-Perſon ein Frauenzimmer nicht zu dem bekaͤnntniß bringen koͤnnte, daß ſie eine Neigung gegen ihn habe, ſo habe man doch eben ſo viel und oft noch mehr gewonnen, wenn man ſie boͤſe machte. Jch muß hier abbrechen: ich werde aber meine Erzehlung, ſo bald es mir moͤglich iſt, fortſetzen. Jndeſſen verharre ich
Dero ergebenſte Dienerin C. Harlowe.
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Die Geſchichte
Sie koͤnnen ſich kaum vorſtellen, was der
Menſch fuͤr ein trotzig Geſicht machte, nicht an-
ders, als wenn es ihn verdroͤſſe, daß ich nicht
mehr durch ihn geruͤhret waͤre; und was es ihm
fuͤr einen augenſcheinlichen Kampf koſtete, ſeine
hochmuͤthigen Geberden beſcheidener und ſanfter
zu machen, als er wieder zu ſich ſelbſt kam; wel-
ches ſo gleich geſchah. Allein ich that als merkte
ich beydes nicht: denn ich hielt fuͤr das beſte, ihn
durch meine Kaltſinnigkeit und Gleichguͤltigkeit,
damit ich ſeine fruͤhzeitige Hofnung abwieß, und
zugleich den Schein des Hochmuths zu vermeiden
ſuchte, zu uͤberzeugen, daß er bey mir noch nicht
hoch genug angeſehen ſey, mich uͤber ſeine Worte
oder Geberden zu aͤrgern, oder mit andern Wor-
ten, daß ich ihn nicht werth genug ſchaͤtzete, durch
ein laͤchelndes oder ſaures Geſichte ihn von an-
dern zu unterſcheiden. Er hatte in der That ſo
viel Verſtand, daß er mir einmahl, obgleich ohne
ſeinen Vorſatz, einen Unterricht gab, durch den
ich behutſamer ward. Deun er ſagte bey einer
gewiſſen Gelegenheit: wenn eine Manns-Perſon
ein Frauenzimmer nicht zu dem bekaͤnntniß
bringen koͤnnte, daß ſie eine Neigung gegen ihn
habe, ſo habe man doch eben ſo viel und oft noch
mehr gewonnen, wenn man ſie boͤſe machte.
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[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 1. Göttingen, 1748, S. 30. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa01_1748/50>, abgerufen am 21.11.2024.
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