kannt ist, schlechterdings erwartet, daß es sich seinen Freunden zu Liebe verleugnen werde, wenn es auch noch so viel Zuneigung zu der einen und Abneigung von der andern Person haben sollte. Es sind ja zehn bis zwölff der nächsten und lieb- sten Freunde, die sie durch eine solche Verleug- nung erfreuen wird, und insonderheit ein lieb- reicher Vater und eine gütige Mutter. Viel- leicht ist alles nur Einbildung/ was sie einzu- wenden hat, und ihre Eltern sehen etwan die Sache tieffer ein. Sollen bey der Fräulein Harlowe ihre Einfälle mehr gelten, als das reiffe Urtheil ihrer Eltern?
Jch redete sehr viel von diesem so genannten reiffen Urtheil: nehmlich alles was Sie nur wünschen können, und was die Sache selbst mit sich bringet, und ich nur sagen durfte. Meine Mutter empfand die Kraft meiner Ein- würfe so sehr, daß sie mir verbot, nichts da- von an Sie zu schreiben, damit es Sie nicht bey so mißlichen Umständen zu einer Entschlies- sung brächte, über die wir beyde (die Rathge- berin, und die so den Rath annähme) Zeit Lebens Ach und Weh würden schreyen müssen.
Jch folge diesem Befehl, und lege Jhnen die Gründe meiner Mutter vor: und dis thue ich desto lieber, weil ich nicht weiß, wozu ich Jh- nen rathen soll. Sie kennen Jhr eigenes Hertz am desten, und wissen, was ihm möglich oder unmöglich ist.
Ro-
Die Geſchichte
kannt iſt, ſchlechterdings erwartet, daß es ſich ſeinen Freunden zu Liebe verleugnen werde, wenn es auch noch ſo viel Zuneigung zu der einen und Abneigung von der andern Perſon haben ſollte. Es ſind ja zehn bis zwoͤlff der naͤchſten und lieb- ſten Freunde, die ſie durch eine ſolche Verleug- nung erfreuen wird, und inſonderheit ein lieb- reicher Vater und eine guͤtige Mutter. Viel- leicht iſt alles nur Einbildung/ was ſie einzu- wenden hat, und ihre Eltern ſehen etwan die Sache tieffer ein. Sollen bey der Fraͤulein Harlowe ihre Einfaͤlle mehr gelten, als das reiffe Urtheil ihrer Eltern?
Jch redete ſehr viel von dieſem ſo genannten reiffen Urtheil: nehmlich alles was Sie nur wuͤnſchen koͤnnen, und was die Sache ſelbſt mit ſich bringet, und ich nur ſagen durfte. Meine Mutter empfand die Kraft meiner Ein- wuͤrfe ſo ſehr, daß ſie mir verbot, nichts da- von an Sie zu ſchreiben, damit es Sie nicht bey ſo mißlichen Umſtaͤnden zu einer Entſchlieſ- ſung braͤchte, uͤber die wir beyde (die Rathge- berin, und die ſo den Rath annaͤhme) Zeit Lebens Ach und Weh wuͤrden ſchreyen muͤſſen.
Jch folge dieſem Befehl, und lege Jhnen die Gruͤnde meiner Mutter vor: und dis thue ich deſto lieber, weil ich nicht weiß, wozu ich Jh- nen rathen ſoll. Sie kennen Jhr eigenes Hertz am deſten, und wiſſen, was ihm moͤglich oder unmoͤglich iſt.
Ro-
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Die Geſchichte
kannt iſt, ſchlechterdings erwartet, daß es ſich
ſeinen Freunden zu Liebe verleugnen werde, wenn
es auch noch ſo viel Zuneigung zu der einen und
Abneigung von der andern Perſon haben ſollte.
Es ſind ja zehn bis zwoͤlff der naͤchſten und lieb-
ſten Freunde, die ſie durch eine ſolche Verleug-
nung erfreuen wird, und inſonderheit ein lieb-
reicher Vater und eine guͤtige Mutter. Viel-
leicht iſt alles nur Einbildung/ was ſie einzu-
wenden hat, und ihre Eltern ſehen etwan die
Sache tieffer ein. Sollen bey der Fraͤulein
Harlowe ihre Einfaͤlle mehr gelten, als das
reiffe Urtheil ihrer Eltern?
Jch redete ſehr viel von dieſem ſo genannten
reiffen Urtheil: nehmlich alles was Sie nur
wuͤnſchen koͤnnen, und was die Sache ſelbſt
mit ſich bringet, und ich nur ſagen durfte.
Meine Mutter empfand die Kraft meiner Ein-
wuͤrfe ſo ſehr, daß ſie mir verbot, nichts da-
von an Sie zu ſchreiben, damit es Sie nicht
bey ſo mißlichen Umſtaͤnden zu einer Entſchlieſ-
ſung braͤchte, uͤber die wir beyde (die Rathge-
berin, und die ſo den Rath annaͤhme) Zeit Lebens
Ach und Weh wuͤrden ſchreyen muͤſſen.
Jch folge dieſem Befehl, und lege Jhnen die
Gruͤnde meiner Mutter vor: und dis thue ich
deſto lieber, weil ich nicht weiß, wozu ich Jh-
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[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 2. Göttingen, 1748, S. 130. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa02_1748/136>, abgerufen am 21.11.2024.
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