"Er bemerckt, daß ein jedes edles Gemüth "allen Zwang hasse. Er gehet dieser Betrach- "tung weiter nach, und bedauert endlich, daß es "scheine, als wenn er alle Hoffnung auf mich "blos dem Zwang der Meinigen zu dancken ha- "be, dem gantz unvernünftigen Zwange, wie "er ihn mit Recht nennet, und gar nicht meiner "Hochachtung für ihn. Und dennoch meint er "einige Verdienste zu haben, nemlich einen blin- "den Gehorsam gegen meinen Willen: eine an- "haltende Geduld, bey den täglichen Beleidi- "gungen meines Bruders, die nicht blos auf ihn "selbst, sondern auch auf seine Anverwanten "giengen: und die vielen Nächte, die er meinet- "wegen gewachet hätte, nebst der Gefahr und "allen Beschwerlichkeiten des Wetters, die er da- "bey auszustehen hätte. Seine jetzige Unpäß- "lichkeit erinnere ihn hieran, sonst würde er durch "eine Erzählung, die nach der Eigenliebe schme- "cke, die recht edle Liebe, die er gegen mich em- "pfinde, nicht entehret haben."
Jch kan nicht leugnen, es daurt mich, daß er unpäßlich ist. Jch scheue mich, Sie zu fragen, was Sie in gleichen Umständen thun würden. Was ich gethan habe, das habe ich gethan! Kurtz! ich habe geschrieben: ich wollte mich wenn es möglich wäre Morgen Abend zwischen neun und zwölff Uhr mit ihm unterreden. Es sollte bey oder in der Laube geschehen, oder bey der gros- sen Cascade am Ende des Gartens. Die Thür wollte ich aufriegeln, damit er nur auf-
schlies-
der Clariſſa.
„Er bemerckt, daß ein jedes edles Gemuͤth „allen Zwang haſſe. Er gehet dieſer Betrach- „tung weiter nach, und bedauert endlich, daß es „ſcheine, als wenn er alle Hoffnung auf mich „blos dem Zwang der Meinigen zu dancken ha- „be, dem gantz unvernuͤnftigen Zwange, wie „er ihn mit Recht nennet, und gar nicht meiner „Hochachtung fuͤr ihn. Und dennoch meint er „einige Verdienſte zu haben, nemlich einen blin- „den Gehorſam gegen meinen Willen: eine an- „haltende Geduld, bey den taͤglichen Beleidi- „gungen meines Bruders, die nicht blos auf ihn „ſelbſt, ſondern auch auf ſeine Anverwanten „giengen: und die vielen Naͤchte, die er meinet- „wegen gewachet haͤtte, nebſt der Gefahr und „allen Beſchwerlichkeiten des Wetters, die er da- „bey auszuſtehen haͤtte. Seine jetzige Unpaͤß- „lichkeit erinnere ihn hieran, ſonſt wuͤrde er durch „eine Erzaͤhlung, die nach der Eigenliebe ſchme- „cke, die recht edle Liebe, die er gegen mich em- „pfinde, nicht entehret haben.„
Jch kan nicht leugnen, es daurt mich, daß er unpaͤßlich iſt. Jch ſcheue mich, Sie zu fragen, was Sie in gleichen Umſtaͤnden thun wuͤrden. Was ich gethan habe, das habe ich gethan! Kurtz! ich habe geſchrieben: ich wollte mich wenn es moͤglich waͤre Morgen Abend zwiſchen neun und zwoͤlff Uhr mit ihm unterreden. Es ſollte bey oder in der Laube geſchehen, oder bey der groſ- ſen Cascade am Ende des Gartens. Die Thuͤr wollte ich aufriegeln, damit er nur auf-
ſchlieſ-
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><pbfacs="#f0181"n="175"/><fwplace="top"type="header"><hirendition="#b"><hirendition="#g">der Clariſſa</hi>.</hi></fw><lb/><p>„Er bemerckt, daß ein jedes edles Gemuͤth<lb/>„allen Zwang haſſe. Er gehet dieſer Betrach-<lb/>„tung weiter nach, und bedauert endlich, daß es<lb/>„ſcheine, als wenn er alle Hoffnung auf mich<lb/>„blos dem Zwang der Meinigen zu dancken ha-<lb/>„be, dem gantz <hirendition="#fr">unvernuͤnftigen</hi> Zwange, wie<lb/>„er ihn mit Recht nennet, und gar nicht meiner<lb/>„Hochachtung fuͤr ihn. Und dennoch meint er<lb/>„einige Verdienſte zu haben, nemlich einen blin-<lb/>„den Gehorſam gegen meinen Willen: eine an-<lb/>„haltende Geduld, bey den taͤglichen Beleidi-<lb/>„gungen meines Bruders, die nicht blos auf ihn<lb/>„ſelbſt, ſondern auch auf ſeine Anverwanten<lb/>„giengen: und die vielen Naͤchte, die er meinet-<lb/>„wegen gewachet haͤtte, nebſt der Gefahr und<lb/>„allen Beſchwerlichkeiten des Wetters, die er da-<lb/>„bey auszuſtehen haͤtte. Seine jetzige Unpaͤß-<lb/>„lichkeit erinnere ihn hieran, ſonſt wuͤrde er durch<lb/>„eine Erzaͤhlung, die nach der Eigenliebe ſchme-<lb/>„cke, die recht edle Liebe, die er gegen mich em-<lb/>„pfinde, nicht entehret haben.„</p><lb/><p>Jch kan nicht leugnen, es daurt mich, daß er<lb/>
unpaͤßlich iſt. Jch ſcheue mich, Sie zu fragen,<lb/>
was Sie in gleichen Umſtaͤnden thun wuͤrden.<lb/>
Was ich gethan habe, das habe ich gethan! Kurtz!<lb/>
ich habe geſchrieben: ich wollte mich wenn es<lb/>
moͤglich waͤre Morgen Abend zwiſchen neun und<lb/>
zwoͤlff Uhr mit ihm unterreden. Es ſollte bey<lb/>
oder in der Laube geſchehen, oder bey der groſ-<lb/>ſen <hirendition="#fr">Cascade</hi> am Ende des Gartens. Die<lb/>
Thuͤr wollte ich aufriegeln, damit er nur auf-<lb/><fwplace="bottom"type="catch">ſchlieſ-</fw><lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[175/0181]
der Clariſſa.
„Er bemerckt, daß ein jedes edles Gemuͤth
„allen Zwang haſſe. Er gehet dieſer Betrach-
„tung weiter nach, und bedauert endlich, daß es
„ſcheine, als wenn er alle Hoffnung auf mich
„blos dem Zwang der Meinigen zu dancken ha-
„be, dem gantz unvernuͤnftigen Zwange, wie
„er ihn mit Recht nennet, und gar nicht meiner
„Hochachtung fuͤr ihn. Und dennoch meint er
„einige Verdienſte zu haben, nemlich einen blin-
„den Gehorſam gegen meinen Willen: eine an-
„haltende Geduld, bey den taͤglichen Beleidi-
„gungen meines Bruders, die nicht blos auf ihn
„ſelbſt, ſondern auch auf ſeine Anverwanten
„giengen: und die vielen Naͤchte, die er meinet-
„wegen gewachet haͤtte, nebſt der Gefahr und
„allen Beſchwerlichkeiten des Wetters, die er da-
„bey auszuſtehen haͤtte. Seine jetzige Unpaͤß-
„lichkeit erinnere ihn hieran, ſonſt wuͤrde er durch
„eine Erzaͤhlung, die nach der Eigenliebe ſchme-
„cke, die recht edle Liebe, die er gegen mich em-
„pfinde, nicht entehret haben.„
Jch kan nicht leugnen, es daurt mich, daß er
unpaͤßlich iſt. Jch ſcheue mich, Sie zu fragen,
was Sie in gleichen Umſtaͤnden thun wuͤrden.
Was ich gethan habe, das habe ich gethan! Kurtz!
ich habe geſchrieben: ich wollte mich wenn es
moͤglich waͤre Morgen Abend zwiſchen neun und
zwoͤlff Uhr mit ihm unterreden. Es ſollte bey
oder in der Laube geſchehen, oder bey der groſ-
ſen Cascade am Ende des Gartens. Die
Thuͤr wollte ich aufriegeln, damit er nur auf-
ſchlieſ-
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 2. Göttingen, 1748, S. 175. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa02_1748/181>, abgerufen am 25.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.