Der achtzehende Brief. von Fräulein Clarissa Harlowe an Fräulein Howe.
Donnerstag den 28. März um 3. Uhr.
Jch habe Jhnen einige mahl geschrieben, daß Elisabetb sehr dreiste und naseweiß sey. Da ich jetzt ein wenig Zeit habe, so will ich Jh- nen eine Probe davon geben, und eine Unterre- dung, die wir eben mit einander gehabt haben, aufzeichnen. Vielleicht dient es Jhnen zur Er- leichterung, da ich Sie sonst immer mit so un- angenehmen Nachrichten ermüde.
Als sie mir bey Tische aufwartete, merckte sie an, daß die Natur mit wenigem zufrieden sey. Sie wollte einmahl ein höfliches Wort sagen, und setzte deshalb als einen Beweis hinzu: Denn/ Fräulein/ sie essen jetzt fast nichts/ und haben doch in ihrem Leben nie char- manter ausgesehen.
Jch antwortete: "Eur erster Satz ist rich- "tig, Elisabeth: und wenn ich bisweilen gesehen "habe, wie gesund die Kinder der armen Tage- "löhner aussehen und auch in der That sind, ob- "gleich ihr Magen leer ist, und sie sich kaum ein- "mahl in der Woche satt essen können, so habe "ich oft bedacht, daß die Vorsicht sehr gütig ge- "gen die Geschöpfe gewesen sey, da sie eine sol-
"che
Die Geſchichte
Der achtzehende Brief. von Fraͤulein Clariſſa Harlowe an Fraͤulein Howe.
Donnerſtag den 28. Maͤrz um 3. Uhr.
Jch habe Jhnen einige mahl geſchrieben, daß Eliſabetb ſehr dreiſte und naſeweiß ſey. Da ich jetzt ein wenig Zeit habe, ſo will ich Jh- nen eine Probe davon geben, und eine Unterre- dung, die wir eben mit einander gehabt haben, aufzeichnen. Vielleicht dient es Jhnen zur Er- leichterung, da ich Sie ſonſt immer mit ſo un- angenehmen Nachrichten ermuͤde.
Als ſie mir bey Tiſche aufwartete, merckte ſie an, daß die Natur mit wenigem zufrieden ſey. Sie wollte einmahl ein hoͤfliches Wort ſagen, und ſetzte deshalb als einen Beweis hinzu: Denn/ Fraͤulein/ ſie eſſen jetzt faſt nichts/ und haben doch in ihrem Leben nie char- manter ausgeſehen.
Jch antwortete: „Eur erſter Satz iſt rich- „tig, Eliſabeth: und wenn ich bisweilen geſehen „habe, wie geſund die Kinder der armen Tage- „loͤhner ausſehen und auch in der That ſind, ob- „gleich ihr Magen leer iſt, und ſie ſich kaum ein- „mahl in der Woche ſatt eſſen koͤnnen, ſo habe „ich oft bedacht, daß die Vorſicht ſehr guͤtig ge- „gen die Geſchoͤpfe geweſen ſey, da ſie eine ſol-
„che
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Die Geſchichte
Der achtzehende Brief.
von
Fraͤulein Clariſſa Harlowe an Fraͤulein
Howe.
Donnerſtag den 28. Maͤrz
um 3. Uhr.
Jch habe Jhnen einige mahl geſchrieben, daß
Eliſabetb ſehr dreiſte und naſeweiß ſey.
Da ich jetzt ein wenig Zeit habe, ſo will ich Jh-
nen eine Probe davon geben, und eine Unterre-
dung, die wir eben mit einander gehabt haben,
aufzeichnen. Vielleicht dient es Jhnen zur Er-
leichterung, da ich Sie ſonſt immer mit ſo un-
angenehmen Nachrichten ermuͤde.
Als ſie mir bey Tiſche aufwartete, merckte ſie
an, daß die Natur mit wenigem zufrieden ſey.
Sie wollte einmahl ein hoͤfliches Wort ſagen,
und ſetzte deshalb als einen Beweis hinzu:
Denn/ Fraͤulein/ ſie eſſen jetzt faſt nichts/
und haben doch in ihrem Leben nie char-
manter ausgeſehen.
Jch antwortete: „Eur erſter Satz iſt rich-
„tig, Eliſabeth: und wenn ich bisweilen geſehen
„habe, wie geſund die Kinder der armen Tage-
„loͤhner ausſehen und auch in der That ſind, ob-
„gleich ihr Magen leer iſt, und ſie ſich kaum ein-
„mahl in der Woche ſatt eſſen koͤnnen, ſo habe
„ich oft bedacht, daß die Vorſicht ſehr guͤtig ge-
„gen die Geſchoͤpfe geweſen ſey, da ſie eine ſol-
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[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 2. Göttingen, 1748, S. 178. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa02_1748/184>, abgerufen am 26.11.2024.
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