"sonderlich wo Sie meynen, daß das Verspre- "chen mit dem Worte Gehorsam streite? da "man Sie so sehr drückt? da man seinen Haß "gegen mich gar nicht verbirget? Wie sell ich "hier glauben, nachdem ich eben gesehen habe, "wie leicht Sie Jhr Wort zurück nehmen?
"Wenn Sie, mein allerliebstes Leben, gesinnet "sind, meiner Verwirrung oder den Folgen, die "meine Verwirrung haben könnte, abzuhelfen: "so erneuren Sie Jhr Versprechen. Jetzt ist "die gefährliche Zeit, da mein Schicksal entschie- "den werden wird.
"Vergeben Sie mir: allerliebstes Kind, ver- "geben Sie mir. Jch weiß, daß mir Kummer "und Angst allzusehr die Feder geführt hat. "Denn ich schreibe dis den Augenblick, da das "anbrechende Tages-Licht mir mein unerträgli- "ches Unglück entdecket hat.
"Jch unterstehe mich nicht, das, was ich ge- "schrieben habe, zu überlesen. Jch will es so- "gleich hinlegen. Sie werden daraus meine "Verwirrung sehen können, in welche mich die "Furcht setzet, daß diese mir fehl geschlagene "Hoffnung vielleicht ein Vorbote eines noch grö- "sern Unglücks für mich seyn möchte. Jch ha- "be auch kein Papier mehr, und ich würde kei- "nen andern Brief an diesem finstern Orte schrei- "ben können, wenn ich gleich gern wollte. Mein "Gemüthe ist finster, und es scheint die gantze "Natur um mich herum zu verfinstern. Jch "verlasse mich auf Jhre Gütigkeit. Wenn Sie
bey
Die Geſchichte
„ſonderlich wo Sie meynen, daß das Verſpre- „chen mit dem Worte Gehorſam ſtreite? da „man Sie ſo ſehr druͤckt? da man ſeinen Haß „gegen mich gar nicht verbirget? Wie ſell ich „hier glauben, nachdem ich eben geſehen habe, „wie leicht Sie Jhr Wort zuruͤck nehmen?
„Wenn Sie, mein allerliebſtes Leben, geſinnet „ſind, meiner Verwirrung oder den Folgen, die „meine Verwirrung haben koͤnnte, abzuhelfen: „ſo erneuren Sie Jhr Verſprechen. Jetzt iſt „die gefaͤhrliche Zeit, da mein Schickſal entſchie- „den werden wird.
„Vergeben Sie mir: allerliebſtes Kind, ver- „geben Sie mir. Jch weiß, daß mir Kummer „und Angſt allzuſehr die Feder gefuͤhrt hat. „Denn ich ſchreibe dis den Augenblick, da das „anbrechende Tages-Licht mir mein unertraͤgli- „ches Ungluͤck entdecket hat.
„Jch unterſtehe mich nicht, das, was ich ge- „ſchrieben habe, zu uͤberleſen. Jch will es ſo- „gleich hinlegen. Sie werden daraus meine „Verwirrung ſehen koͤnnen, in welche mich die „Furcht ſetzet, daß dieſe mir fehl geſchlagene „Hoffnung vielleicht ein Vorbote eines noch groͤ- „ſern Ungluͤcks fuͤr mich ſeyn moͤchte. Jch ha- „be auch kein Papier mehr, und ich wuͤrde kei- „nen andern Brief an dieſem finſtern Orte ſchrei- „ben koͤnnen, wenn ich gleich gern wollte. Mein „Gemuͤthe iſt finſter, und es ſcheint die gantze „Natur um mich herum zu verfinſtern. Jch „verlaſſe mich auf Jhre Guͤtigkeit. Wenn Sie
bey
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Die Geſchichte
„ſonderlich wo Sie meynen, daß das Verſpre-
„chen mit dem Worte Gehorſam ſtreite? da
„man Sie ſo ſehr druͤckt? da man ſeinen Haß
„gegen mich gar nicht verbirget? Wie ſell ich
„hier glauben, nachdem ich eben geſehen habe,
„wie leicht Sie Jhr Wort zuruͤck nehmen?
„Wenn Sie, mein allerliebſtes Leben, geſinnet
„ſind, meiner Verwirrung oder den Folgen, die
„meine Verwirrung haben koͤnnte, abzuhelfen:
„ſo erneuren Sie Jhr Verſprechen. Jetzt iſt
„die gefaͤhrliche Zeit, da mein Schickſal entſchie-
„den werden wird.
„Vergeben Sie mir: allerliebſtes Kind, ver-
„geben Sie mir. Jch weiß, daß mir Kummer
„und Angſt allzuſehr die Feder gefuͤhrt hat.
„Denn ich ſchreibe dis den Augenblick, da das
„anbrechende Tages-Licht mir mein unertraͤgli-
„ches Ungluͤck entdecket hat.
„Jch unterſtehe mich nicht, das, was ich ge-
„ſchrieben habe, zu uͤberleſen. Jch will es ſo-
„gleich hinlegen. Sie werden daraus meine
„Verwirrung ſehen koͤnnen, in welche mich die
„Furcht ſetzet, daß dieſe mir fehl geſchlagene
„Hoffnung vielleicht ein Vorbote eines noch groͤ-
„ſern Ungluͤcks fuͤr mich ſeyn moͤchte. Jch ha-
„be auch kein Papier mehr, und ich wuͤrde kei-
„nen andern Brief an dieſem finſtern Orte ſchrei-
„ben koͤnnen, wenn ich gleich gern wollte. Mein
„Gemuͤthe iſt finſter, und es ſcheint die gantze
„Natur um mich herum zu verfinſtern. Jch
„verlaſſe mich auf Jhre Guͤtigkeit. Wenn Sie
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[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 2. Göttingen, 1748, S. 202. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa02_1748/208>, abgerufen am 21.11.2024.
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