Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 2. Göttingen, 1748.

Bild:
<< vorherige Seite
Die Geschichte

Sie meinen, daß die Art wie wir erzogen
werden uns des Schutzes eines muthigern
Geschlechts bedürftig mache.
Es ist wahr!
und es ist wahrlich recht muthig und heldenmü-
thig gehandelt, daß der muthige Beschirmer uns
vor allen Beleidigungen in Sicherheit zu stellen
verspricht, die allein ausgenommen, die uns am
nächsten gehen werden, ich meine die, damit er
selbst uns zu kräncken gedencket.

Wie künstlich hat Lovelace in dem einen
Brieffe, den Sie mir mittheilen, Jhre eintzige
schwache Seite zu treffen gewußt! Wie listig
beobachtet er Jhren Hauptsatz, daß ein edles
Gemüth allen Zwang hasset.
Er ist gewiß
viel unergründlicher, als wir bisweilen geglaubt
haben. Er weiß wohl, wie Sie selbst zu ver-
stehen geben, daß er seine wilden Streiche nicht
vertuschen kan; er giebt sich also selbst schuldig,
um alles Böse, daß Sie noch künftig von ihm
hören möchten, zum voraus zu bemänteln, in-
dem es Jhnen wie neu und unerwartet ist. Al-
lein wahrhaftig, was er auch sonst vor Laster
hat, so ist er doch sehr anfrichtig, und hat keine
Ader vom Heuchler; weil bey unserm Geschlecht
kein Laster so verhast ist, als die entdeckte Heu-
cheley des andern Geschlechts, vielleicht deswe-
gen, weil sie uns hindert unser eigenes Lob in
dessen Munde zu glauben, das wir doch hertz-
lich gern glauben möchten.

Durch diese vorgegebene Aufrichtigkeit be-
kommt Herr Lovelace ein Lob, so oft er Schan-

de
Die Geſchichte

Sie meinen, daß die Art wie wir erzogen
werden uns des Schutzes eines muthigern
Geſchlechts beduͤrftig mache.
Es iſt wahr!
und es iſt wahrlich recht muthig und heldenmuͤ-
thig gehandelt, daß der muthige Beſchirmer uns
vor allen Beleidigungen in Sicherheit zu ſtellen
verſpricht, die allein ausgenommen, die uns am
naͤchſten gehen werden, ich meine die, damit er
ſelbſt uns zu kraͤncken gedencket.

Wie kuͤnſtlich hat Lovelace in dem einen
Brieffe, den Sie mir mittheilen, Jhre eintzige
ſchwache Seite zu treffen gewußt! Wie liſtig
beobachtet er Jhren Hauptſatz, daß ein edles
Gemuͤth allen Zwang haſſet.
Er iſt gewiß
viel unergruͤndlicher, als wir bisweilen geglaubt
haben. Er weiß wohl, wie Sie ſelbſt zu ver-
ſtehen geben, daß er ſeine wilden Streiche nicht
vertuſchen kan; er giebt ſich alſo ſelbſt ſchuldig,
um alles Boͤſe, daß Sie noch kuͤnftig von ihm
hoͤren moͤchten, zum voraus zu bemaͤnteln, in-
dem es Jhnen wie neu und unerwartet iſt. Al-
lein wahrhaftig, was er auch ſonſt vor Laſter
hat, ſo iſt er doch ſehr anfrichtig, und hat keine
Ader vom Heuchler; weil bey unſerm Geſchlecht
kein Laſter ſo verhaſt iſt, als die entdeckte Heu-
cheley des andern Geſchlechts, vielleicht deswe-
gen, weil ſie uns hindert unſer eigenes Lob in
deſſen Munde zu glauben, das wir doch hertz-
lich gern glauben moͤchten.

Durch dieſe vorgegebene Aufrichtigkeit be-
kommt Herr Lovelace ein Lob, ſo oft er Schan-

de
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0232" n="226"/>
          <fw place="top" type="header"> <hi rendition="#b"> <hi rendition="#g">Die Ge&#x017F;chichte</hi> </hi> </fw><lb/>
          <p>Sie meinen, <hi rendition="#fr">daß die Art wie wir erzogen<lb/>
werden uns des Schutzes eines muthigern<lb/>
Ge&#x017F;chlechts bedu&#x0364;rftig mache.</hi> Es i&#x017F;t wahr!<lb/>
und es i&#x017F;t wahrlich recht muthig und heldenmu&#x0364;-<lb/>
thig gehandelt, daß der muthige Be&#x017F;chirmer uns<lb/>
vor allen Beleidigungen in Sicherheit zu &#x017F;tellen<lb/>
ver&#x017F;pricht, die allein ausgenommen, die uns am<lb/>
na&#x0364;ch&#x017F;ten gehen werden, ich meine die, damit er<lb/>
&#x017F;elb&#x017F;t uns zu kra&#x0364;ncken gedencket.</p><lb/>
          <p>Wie ku&#x0364;n&#x017F;tlich hat <hi rendition="#fr">Lovelace</hi> in dem einen<lb/>
Brieffe, den Sie mir mittheilen, Jhre eintzige<lb/>
&#x017F;chwache Seite zu treffen gewußt! Wie li&#x017F;tig<lb/>
beobachtet er Jhren Haupt&#x017F;atz, <hi rendition="#fr">daß ein edles<lb/>
Gemu&#x0364;th allen Zwang ha&#x017F;&#x017F;et.</hi> Er i&#x017F;t gewiß<lb/>
viel unergru&#x0364;ndlicher, als wir bisweilen geglaubt<lb/>
haben. Er weiß wohl, wie Sie &#x017F;elb&#x017F;t zu ver-<lb/>
&#x017F;tehen geben, daß er &#x017F;eine wilden Streiche nicht<lb/>
vertu&#x017F;chen kan; er giebt &#x017F;ich al&#x017F;o &#x017F;elb&#x017F;t &#x017F;chuldig,<lb/>
um alles Bo&#x0364;&#x017F;e, daß Sie noch ku&#x0364;nftig von ihm<lb/>
ho&#x0364;ren mo&#x0364;chten, zum voraus zu bema&#x0364;nteln, in-<lb/>
dem es Jhnen wie neu und unerwartet i&#x017F;t. Al-<lb/>
lein wahrhaftig, was er auch &#x017F;on&#x017F;t vor La&#x017F;ter<lb/>
hat, &#x017F;o i&#x017F;t er doch &#x017F;ehr anfrichtig, und hat keine<lb/>
Ader vom Heuchler; weil bey un&#x017F;erm Ge&#x017F;chlecht<lb/>
kein La&#x017F;ter &#x017F;o verha&#x017F;t i&#x017F;t, als die entdeckte Heu-<lb/>
cheley des andern Ge&#x017F;chlechts, vielleicht deswe-<lb/>
gen, weil &#x017F;ie uns hindert un&#x017F;er eigenes Lob in<lb/>
de&#x017F;&#x017F;en Munde zu glauben, das wir doch hertz-<lb/>
lich gern glauben mo&#x0364;chten.</p><lb/>
          <p>Durch die&#x017F;e vorgegebene <hi rendition="#fr">Aufrichtigkeit</hi> be-<lb/>
kommt Herr <hi rendition="#fr">Lovelace</hi> ein Lob, &#x017F;o oft er Schan-<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">de</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[226/0232] Die Geſchichte Sie meinen, daß die Art wie wir erzogen werden uns des Schutzes eines muthigern Geſchlechts beduͤrftig mache. Es iſt wahr! und es iſt wahrlich recht muthig und heldenmuͤ- thig gehandelt, daß der muthige Beſchirmer uns vor allen Beleidigungen in Sicherheit zu ſtellen verſpricht, die allein ausgenommen, die uns am naͤchſten gehen werden, ich meine die, damit er ſelbſt uns zu kraͤncken gedencket. Wie kuͤnſtlich hat Lovelace in dem einen Brieffe, den Sie mir mittheilen, Jhre eintzige ſchwache Seite zu treffen gewußt! Wie liſtig beobachtet er Jhren Hauptſatz, daß ein edles Gemuͤth allen Zwang haſſet. Er iſt gewiß viel unergruͤndlicher, als wir bisweilen geglaubt haben. Er weiß wohl, wie Sie ſelbſt zu ver- ſtehen geben, daß er ſeine wilden Streiche nicht vertuſchen kan; er giebt ſich alſo ſelbſt ſchuldig, um alles Boͤſe, daß Sie noch kuͤnftig von ihm hoͤren moͤchten, zum voraus zu bemaͤnteln, in- dem es Jhnen wie neu und unerwartet iſt. Al- lein wahrhaftig, was er auch ſonſt vor Laſter hat, ſo iſt er doch ſehr anfrichtig, und hat keine Ader vom Heuchler; weil bey unſerm Geſchlecht kein Laſter ſo verhaſt iſt, als die entdeckte Heu- cheley des andern Geſchlechts, vielleicht deswe- gen, weil ſie uns hindert unſer eigenes Lob in deſſen Munde zu glauben, das wir doch hertz- lich gern glauben moͤchten. Durch dieſe vorgegebene Aufrichtigkeit be- kommt Herr Lovelace ein Lob, ſo oft er Schan- de

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa02_1748
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa02_1748/232
Zitationshilfe: [Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 2. Göttingen, 1748, S. 226. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa02_1748/232>, abgerufen am 24.11.2024.