Sie meinen, daß die Art wie wir erzogen werden uns des Schutzes eines muthigern Geschlechts bedürftig mache. Es ist wahr! und es ist wahrlich recht muthig und heldenmü- thig gehandelt, daß der muthige Beschirmer uns vor allen Beleidigungen in Sicherheit zu stellen verspricht, die allein ausgenommen, die uns am nächsten gehen werden, ich meine die, damit er selbst uns zu kräncken gedencket.
Wie künstlich hat Lovelace in dem einen Brieffe, den Sie mir mittheilen, Jhre eintzige schwache Seite zu treffen gewußt! Wie listig beobachtet er Jhren Hauptsatz, daß ein edles Gemüth allen Zwang hasset. Er ist gewiß viel unergründlicher, als wir bisweilen geglaubt haben. Er weiß wohl, wie Sie selbst zu ver- stehen geben, daß er seine wilden Streiche nicht vertuschen kan; er giebt sich also selbst schuldig, um alles Böse, daß Sie noch künftig von ihm hören möchten, zum voraus zu bemänteln, in- dem es Jhnen wie neu und unerwartet ist. Al- lein wahrhaftig, was er auch sonst vor Laster hat, so ist er doch sehr anfrichtig, und hat keine Ader vom Heuchler; weil bey unserm Geschlecht kein Laster so verhast ist, als die entdeckte Heu- cheley des andern Geschlechts, vielleicht deswe- gen, weil sie uns hindert unser eigenes Lob in dessen Munde zu glauben, das wir doch hertz- lich gern glauben möchten.
Durch diese vorgegebene Aufrichtigkeit be- kommt Herr Lovelace ein Lob, so oft er Schan-
de
Die Geſchichte
Sie meinen, daß die Art wie wir erzogen werden uns des Schutzes eines muthigern Geſchlechts beduͤrftig mache. Es iſt wahr! und es iſt wahrlich recht muthig und heldenmuͤ- thig gehandelt, daß der muthige Beſchirmer uns vor allen Beleidigungen in Sicherheit zu ſtellen verſpricht, die allein ausgenommen, die uns am naͤchſten gehen werden, ich meine die, damit er ſelbſt uns zu kraͤncken gedencket.
Wie kuͤnſtlich hat Lovelace in dem einen Brieffe, den Sie mir mittheilen, Jhre eintzige ſchwache Seite zu treffen gewußt! Wie liſtig beobachtet er Jhren Hauptſatz, daß ein edles Gemuͤth allen Zwang haſſet. Er iſt gewiß viel unergruͤndlicher, als wir bisweilen geglaubt haben. Er weiß wohl, wie Sie ſelbſt zu ver- ſtehen geben, daß er ſeine wilden Streiche nicht vertuſchen kan; er giebt ſich alſo ſelbſt ſchuldig, um alles Boͤſe, daß Sie noch kuͤnftig von ihm hoͤren moͤchten, zum voraus zu bemaͤnteln, in- dem es Jhnen wie neu und unerwartet iſt. Al- lein wahrhaftig, was er auch ſonſt vor Laſter hat, ſo iſt er doch ſehr anfrichtig, und hat keine Ader vom Heuchler; weil bey unſerm Geſchlecht kein Laſter ſo verhaſt iſt, als die entdeckte Heu- cheley des andern Geſchlechts, vielleicht deswe- gen, weil ſie uns hindert unſer eigenes Lob in deſſen Munde zu glauben, das wir doch hertz- lich gern glauben moͤchten.
Durch dieſe vorgegebene Aufrichtigkeit be- kommt Herr Lovelace ein Lob, ſo oft er Schan-
de
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><pbfacs="#f0232"n="226"/><fwplace="top"type="header"><hirendition="#b"><hirendition="#g">Die Geſchichte</hi></hi></fw><lb/><p>Sie meinen, <hirendition="#fr">daß die Art wie wir erzogen<lb/>
werden uns des Schutzes eines muthigern<lb/>
Geſchlechts beduͤrftig mache.</hi> Es iſt wahr!<lb/>
und es iſt wahrlich recht muthig und heldenmuͤ-<lb/>
thig gehandelt, daß der muthige Beſchirmer uns<lb/>
vor allen Beleidigungen in Sicherheit zu ſtellen<lb/>
verſpricht, die allein ausgenommen, die uns am<lb/>
naͤchſten gehen werden, ich meine die, damit er<lb/>ſelbſt uns zu kraͤncken gedencket.</p><lb/><p>Wie kuͤnſtlich hat <hirendition="#fr">Lovelace</hi> in dem einen<lb/>
Brieffe, den Sie mir mittheilen, Jhre eintzige<lb/>ſchwache Seite zu treffen gewußt! Wie liſtig<lb/>
beobachtet er Jhren Hauptſatz, <hirendition="#fr">daß ein edles<lb/>
Gemuͤth allen Zwang haſſet.</hi> Er iſt gewiß<lb/>
viel unergruͤndlicher, als wir bisweilen geglaubt<lb/>
haben. Er weiß wohl, wie Sie ſelbſt zu ver-<lb/>ſtehen geben, daß er ſeine wilden Streiche nicht<lb/>
vertuſchen kan; er giebt ſich alſo ſelbſt ſchuldig,<lb/>
um alles Boͤſe, daß Sie noch kuͤnftig von ihm<lb/>
hoͤren moͤchten, zum voraus zu bemaͤnteln, in-<lb/>
dem es Jhnen wie neu und unerwartet iſt. Al-<lb/>
lein wahrhaftig, was er auch ſonſt vor Laſter<lb/>
hat, ſo iſt er doch ſehr anfrichtig, und hat keine<lb/>
Ader vom Heuchler; weil bey unſerm Geſchlecht<lb/>
kein Laſter ſo verhaſt iſt, als die entdeckte Heu-<lb/>
cheley des andern Geſchlechts, vielleicht deswe-<lb/>
gen, weil ſie uns hindert unſer eigenes Lob in<lb/>
deſſen Munde zu glauben, das wir doch hertz-<lb/>
lich gern glauben moͤchten.</p><lb/><p>Durch dieſe vorgegebene <hirendition="#fr">Aufrichtigkeit</hi> be-<lb/>
kommt Herr <hirendition="#fr">Lovelace</hi> ein Lob, ſo oft er Schan-<lb/><fwplace="bottom"type="catch">de</fw><lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[226/0232]
Die Geſchichte
Sie meinen, daß die Art wie wir erzogen
werden uns des Schutzes eines muthigern
Geſchlechts beduͤrftig mache. Es iſt wahr!
und es iſt wahrlich recht muthig und heldenmuͤ-
thig gehandelt, daß der muthige Beſchirmer uns
vor allen Beleidigungen in Sicherheit zu ſtellen
verſpricht, die allein ausgenommen, die uns am
naͤchſten gehen werden, ich meine die, damit er
ſelbſt uns zu kraͤncken gedencket.
Wie kuͤnſtlich hat Lovelace in dem einen
Brieffe, den Sie mir mittheilen, Jhre eintzige
ſchwache Seite zu treffen gewußt! Wie liſtig
beobachtet er Jhren Hauptſatz, daß ein edles
Gemuͤth allen Zwang haſſet. Er iſt gewiß
viel unergruͤndlicher, als wir bisweilen geglaubt
haben. Er weiß wohl, wie Sie ſelbſt zu ver-
ſtehen geben, daß er ſeine wilden Streiche nicht
vertuſchen kan; er giebt ſich alſo ſelbſt ſchuldig,
um alles Boͤſe, daß Sie noch kuͤnftig von ihm
hoͤren moͤchten, zum voraus zu bemaͤnteln, in-
dem es Jhnen wie neu und unerwartet iſt. Al-
lein wahrhaftig, was er auch ſonſt vor Laſter
hat, ſo iſt er doch ſehr anfrichtig, und hat keine
Ader vom Heuchler; weil bey unſerm Geſchlecht
kein Laſter ſo verhaſt iſt, als die entdeckte Heu-
cheley des andern Geſchlechts, vielleicht deswe-
gen, weil ſie uns hindert unſer eigenes Lob in
deſſen Munde zu glauben, das wir doch hertz-
lich gern glauben moͤchten.
Durch dieſe vorgegebene Aufrichtigkeit be-
kommt Herr Lovelace ein Lob, ſo oft er Schan-
de
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 2. Göttingen, 1748, S. 226. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa02_1748/232>, abgerufen am 24.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.