[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 2. Göttingen, 1748.Die Geschichte Sie könnten vielleicht die Stacheln Jhres Ta-dels gleichsam weniger schärffen, wenn ich sie nicht mehr fühlete: ja ein großmüthiger Tade- ler verwandelt die Satyre leicht in eine Lob-Re- de, wenn er weiß, daß man sich gern tadeln läßt. Jhre Satyren sind voller Lehren, und sie sind eben so angenehm als beissend: Sie geben so unmercklich-zarte Stiche, und die so ohne Gift eines Widerwillens und Hohn-Gelächters sind, daß die Wunden gewiß nicht eitern werden. Diejenigen, die zu unserer Zeit wegen ihres Witzes am berühmtesten sind, verstehen diese Kunst nicht: denn sie entsteht aus der wahren Menschen-Liebe, und wird nirgends gefunden werden, als wo ein aufrichtiges Hertz die Feder führet. Unsere witzigen Schrifft-Steller lachen über die Men- schen und nicht über ihre Fehler: und wenn ihre Satyre der Billigkeit gemäß seyn sollte, so würde sie ihrem Endzweck nicht gemäß seyn. Wie kan sie zur Besserung anderer dienen, da jede Nar- be die sie giebt, nur darauf abzielet, andere lächer- lich zu machen: und da sie verwundet, an statt daß sie heilen sollte. Schonen Sie demnach meiner um unserer Freudschafft willen nicht: eben diese unsere Freundschafft soll Sie unbarm- hertziger machen. Jch werde zwar Jhre Stiche fühlen, so zart, so unmercklich sie auch sind; es wird mich schmertzen, und Jhr Endzweck würde nicht erreicht werden, wenn ich unempfindlich bliebe: allein so bald die erste Empfindung vor- über ist, werde ich Sie lieber gewinnen, und mein durch
Die Geſchichte Sie koͤnnten vielleicht die Stacheln Jhres Ta-dels gleichſam weniger ſchaͤrffen, wenn ich ſie nicht mehr fuͤhlete: ja ein großmuͤthiger Tade- ler verwandelt die Satyre leicht in eine Lob-Re- de, wenn er weiß, daß man ſich gern tadeln laͤßt. Jhre Satyren ſind voller Lehren, und ſie ſind eben ſo angenehm als beiſſend: Sie geben ſo unmercklich-zarte Stiche, und die ſo ohne Gift eines Widerwillens und Hohn-Gelaͤchters ſind, daß die Wunden gewiß nicht eitern werden. Diejenigen, die zu unſerer Zeit wegen ihres Witzes am beruͤhmteſten ſind, verſtehen dieſe Kunſt nicht: denn ſie entſteht aus der wahren Menſchen-Liebe, und wird nirgends gefunden werden, als wo ein aufrichtiges Hertz die Feder fuͤhret. Unſere witzigen Schrifft-Steller lachen uͤber die Men- ſchen und nicht uͤber ihre Fehler: und wenn ihre Satyre der Billigkeit gemaͤß ſeyn ſollte, ſo wuͤrde ſie ihrem Endzweck nicht gemaͤß ſeyn. Wie kan ſie zur Beſſerung anderer dienen, da jede Nar- be die ſie giebt, nur darauf abzielet, andere laͤcher- lich zu machen: und da ſie verwundet, an ſtatt daß ſie heilen ſollte. Schonen Sie demnach meiner um unſerer Freudſchafft willen nicht: eben dieſe unſere Freundſchafft ſoll Sie unbarm- hertziger machen. Jch werde zwar Jhre Stiche fuͤhlen, ſo zart, ſo unmercklich ſie auch ſind; es wird mich ſchmertzen, und Jhr Endzweck wuͤrde nicht erreicht werden, wenn ich unempfindlich bliebe: allein ſo bald die erſte Empfindung vor- uͤber iſt, werde ich Sie lieber gewinnen, und mein durch
<TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0240" n="234"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b"><hi rendition="#g">Die Geſchichte</hi></hi></fw><lb/> Sie koͤnnten vielleicht die Stacheln Jhres Ta-<lb/> dels gleichſam weniger ſchaͤrffen, wenn ich ſie<lb/> nicht mehr fuͤhlete: ja ein großmuͤthiger Tade-<lb/> ler verwandelt die Satyre leicht in eine Lob-Re-<lb/> de, wenn er weiß, daß man ſich gern tadeln laͤßt.<lb/> Jhre Satyren ſind voller Lehren, und ſie ſind<lb/> eben ſo angenehm als beiſſend: Sie geben ſo<lb/> unmercklich-zarte Stiche, und die ſo ohne Gift<lb/> eines Widerwillens und Hohn-Gelaͤchters ſind,<lb/> daß die Wunden gewiß nicht eitern werden.<lb/> Diejenigen, die zu unſerer Zeit wegen ihres Witzes<lb/> am beruͤhmteſten ſind, verſtehen dieſe Kunſt nicht:<lb/> denn ſie entſteht aus der wahren Menſchen-Liebe,<lb/> und wird nirgends gefunden werden, als wo ein<lb/> aufrichtiges Hertz die Feder fuͤhret. Unſere<lb/> witzigen Schrifft-Steller lachen uͤber die <hi rendition="#fr">Men-<lb/> ſchen</hi> und nicht uͤber ihre <hi rendition="#fr">Fehler:</hi> und wenn<lb/> ihre Satyre der Billigkeit gemaͤß ſeyn ſollte, ſo<lb/> wuͤrde ſie ihrem Endzweck nicht gemaͤß ſeyn. Wie<lb/> kan ſie zur Beſſerung anderer dienen, da jede Nar-<lb/> be die ſie giebt, nur darauf abzielet, andere laͤcher-<lb/> lich zu machen: und da ſie verwundet, an ſtatt<lb/> daß ſie heilen ſollte. Schonen Sie demnach<lb/> meiner um unſerer Freudſchafft willen nicht:<lb/> eben dieſe unſere Freundſchafft ſoll Sie unbarm-<lb/> hertziger machen. Jch werde zwar Jhre Stiche<lb/> fuͤhlen, ſo zart, ſo unmercklich ſie auch ſind; es<lb/> wird mich ſchmertzen, und Jhr Endzweck wuͤrde<lb/> nicht erreicht werden, wenn ich unempfindlich<lb/> bliebe: allein ſo bald die erſte Empfindung vor-<lb/> uͤber iſt, werde ich Sie lieber gewinnen, und mein<lb/> <fw place="bottom" type="catch">durch</fw><lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [234/0240]
Die Geſchichte
Sie koͤnnten vielleicht die Stacheln Jhres Ta-
dels gleichſam weniger ſchaͤrffen, wenn ich ſie
nicht mehr fuͤhlete: ja ein großmuͤthiger Tade-
ler verwandelt die Satyre leicht in eine Lob-Re-
de, wenn er weiß, daß man ſich gern tadeln laͤßt.
Jhre Satyren ſind voller Lehren, und ſie ſind
eben ſo angenehm als beiſſend: Sie geben ſo
unmercklich-zarte Stiche, und die ſo ohne Gift
eines Widerwillens und Hohn-Gelaͤchters ſind,
daß die Wunden gewiß nicht eitern werden.
Diejenigen, die zu unſerer Zeit wegen ihres Witzes
am beruͤhmteſten ſind, verſtehen dieſe Kunſt nicht:
denn ſie entſteht aus der wahren Menſchen-Liebe,
und wird nirgends gefunden werden, als wo ein
aufrichtiges Hertz die Feder fuͤhret. Unſere
witzigen Schrifft-Steller lachen uͤber die Men-
ſchen und nicht uͤber ihre Fehler: und wenn
ihre Satyre der Billigkeit gemaͤß ſeyn ſollte, ſo
wuͤrde ſie ihrem Endzweck nicht gemaͤß ſeyn. Wie
kan ſie zur Beſſerung anderer dienen, da jede Nar-
be die ſie giebt, nur darauf abzielet, andere laͤcher-
lich zu machen: und da ſie verwundet, an ſtatt
daß ſie heilen ſollte. Schonen Sie demnach
meiner um unſerer Freudſchafft willen nicht:
eben dieſe unſere Freundſchafft ſoll Sie unbarm-
hertziger machen. Jch werde zwar Jhre Stiche
fuͤhlen, ſo zart, ſo unmercklich ſie auch ſind; es
wird mich ſchmertzen, und Jhr Endzweck wuͤrde
nicht erreicht werden, wenn ich unempfindlich
bliebe: allein ſo bald die erſte Empfindung vor-
uͤber iſt, werde ich Sie lieber gewinnen, und mein
durch
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |