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[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 2. Göttingen, 1748.

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Die Geschichte
hin zu Tische gebeten. Er ließ sich bey mir
melden, mich auf meiner Stube zu besuchen.
Jch nahm den Besuch mit Freuden an: und er
kam herauf.

Wir unterredeten uns fast eine Stunde lang
vor dem Mittags-Essen: und ich verwunderte
mich, daß er alles zu vermeiden suchte, was un-
sere Unterredung auf diejenige Materie lencken
konnte, von der er meiner Meinung nach mit
mir reden würde. Zuletzt fragte ich ihn: ob er
sich nicht verwunderte, daß ich so lange Zeit
nicht in der Kirche gewesen wäre? Er beant-
wortete diese Frage sehr höflich, und setzte hinzu:
er habe sich das Gesetz gemacht, sich in keine
Familien-Sachen zu mengen, wenn es nicht von
ihm gefodert würde.

Jch fand mich in meinen Gedancken sehr be-
trogen. Weil ich aber glaubte, daß man ihn für
allzugerecht gehalten hätte, als daß man seinen
Ausspruch über unsern Streit zu hören verlang-
te, so redete ich weiter nichts, das ihn auf diese
Materie bringen konnte. Als er zum Essen ge-
ruffen ward, ließ er sich nichts davon mercken,
daß er ohne mich hinunter ging.

Dieses war das erste mahl, währender mei-
ner Gefangenschaft, da es mich betrübete, daß
ich allein speisen mußte. Als ich auf der Trep-
pe von ihm Abschied nahm, wollten mir die Au-
gen übergehen. Er ging geschwind fort, allein
seine gütige Augen blieben nicht gantz sprachlos,

als

Die Geſchichte
hin zu Tiſche gebeten. Er ließ ſich bey mir
melden, mich auf meiner Stube zu beſuchen.
Jch nahm den Beſuch mit Freuden an: und er
kam herauf.

Wir unterredeten uns faſt eine Stunde lang
vor dem Mittags-Eſſen: und ich verwunderte
mich, daß er alles zu vermeiden ſuchte, was un-
ſere Unterredung auf diejenige Materie lencken
konnte, von der er meiner Meinung nach mit
mir reden wuͤrde. Zuletzt fragte ich ihn: ob er
ſich nicht verwunderte, daß ich ſo lange Zeit
nicht in der Kirche geweſen waͤre? Er beant-
wortete dieſe Frage ſehr hoͤflich, und ſetzte hinzu:
er habe ſich das Geſetz gemacht, ſich in keine
Familien-Sachen zu mengen, wenn es nicht von
ihm gefodert wuͤrde.

Jch fand mich in meinen Gedancken ſehr be-
trogen. Weil ich aber glaubte, daß man ihn fuͤr
allzugerecht gehalten haͤtte, als daß man ſeinen
Ausſpruch uͤber unſern Streit zu hoͤren verlang-
te, ſo redete ich weiter nichts, das ihn auf dieſe
Materie bringen konnte. Als er zum Eſſen ge-
ruffen ward, ließ er ſich nichts davon mercken,
daß er ohne mich hinunter ging.

Dieſes war das erſte mahl, waͤhrender mei-
ner Gefangenſchaft, da es mich betruͤbete, daß
ich allein ſpeiſen mußte. Als ich auf der Trep-
pe von ihm Abſchied nahm, wollten mir die Au-
gen uͤbergehen. Er ging geſchwind fort, allein
ſeine guͤtige Augen blieben nicht gantz ſprachlos,

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[276/0282] Die Geſchichte hin zu Tiſche gebeten. Er ließ ſich bey mir melden, mich auf meiner Stube zu beſuchen. Jch nahm den Beſuch mit Freuden an: und er kam herauf. Wir unterredeten uns faſt eine Stunde lang vor dem Mittags-Eſſen: und ich verwunderte mich, daß er alles zu vermeiden ſuchte, was un- ſere Unterredung auf diejenige Materie lencken konnte, von der er meiner Meinung nach mit mir reden wuͤrde. Zuletzt fragte ich ihn: ob er ſich nicht verwunderte, daß ich ſo lange Zeit nicht in der Kirche geweſen waͤre? Er beant- wortete dieſe Frage ſehr hoͤflich, und ſetzte hinzu: er habe ſich das Geſetz gemacht, ſich in keine Familien-Sachen zu mengen, wenn es nicht von ihm gefodert wuͤrde. Jch fand mich in meinen Gedancken ſehr be- trogen. Weil ich aber glaubte, daß man ihn fuͤr allzugerecht gehalten haͤtte, als daß man ſeinen Ausſpruch uͤber unſern Streit zu hoͤren verlang- te, ſo redete ich weiter nichts, das ihn auf dieſe Materie bringen konnte. Als er zum Eſſen ge- ruffen ward, ließ er ſich nichts davon mercken, daß er ohne mich hinunter ging. Dieſes war das erſte mahl, waͤhrender mei- ner Gefangenſchaft, da es mich betruͤbete, daß ich allein ſpeiſen mußte. Als ich auf der Trep- pe von ihm Abſchied nahm, wollten mir die Au- gen uͤbergehen. Er ging geſchwind fort, allein ſeine guͤtige Augen blieben nicht gantz ſprachlos, als

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Zitationshilfe: [Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 2. Göttingen, 1748, S. 276. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa02_1748/282>, abgerufen am 22.11.2024.