sie auf meine Verheyrathung dencken könnte, so müßte sie mir auch so viel Verstand zutrauen, daß ich meine Freundschaften wählen könnte. Das müsse insonderheit in Absicht auf ein solches Frau- enzimmer gelten, dessen Freundschaft sie selbst für die nützlichste und anständigste unter allen gehalten hätte, ehe dieses Frauenzimmer ohne Verschulden unglücklich geworden wäre.
Je grösser der vorige Ruhm sey, (sagte sie) desto ärgerlicher sey die Vergehung. Je klüger Sie wä- ren, desto schädlicher sey Jhr Exempel.
Jch sagte: es gebe noch andere Pflichten ausser der Pflicht der Kinder gegen die Eltern; und ich glaubte nicht, daß ich schuldig wäre, eine unglück- liche Freundin zu verlassen, weil es die Uhrheber ihres Unglücks verlangeten. Es wäre sehr hart, wenn dieses ein Stück meiner kindlichen Pflicht seyn sollte, da doch beyderley Arten von Pflichten wohl mit einander bestehen könnten. Unbillige Be- fehle und Verbote wären eine Art der Tyranney: ich müßte ihr dieses frey sagen, wenn sie mich gleich noch einmahl deswegen schlagen wollte. Jch hätte nie gedacht, daß man mir in diesen Jahren verbie- ten würde einigen Willen und freye Wahl zu ha- ben, mit was vor Frauenzimmer ich umgehen sollte: denn von den verdammten Manns-Leuten sey jetzt im geringsten die Rede nicht.
Das wichtigste, was sie vorbringen konnte, grün- dete sich darauf, daß ich ihr nicht alle unsere Brieffe zeigen wollte. Sie machte viel Wesens hierüber, und sagte: Sie befänden sich in der Gewalt des
grös-
U 4
ſie auf meine Verheyrathung dencken koͤnnte, ſo muͤßte ſie mir auch ſo viel Verſtand zutrauen, daß ich meine Freundſchaften waͤhlen koͤnnte. Das muͤſſe inſonderheit in Abſicht auf ein ſolches Frau- enzimmer gelten, deſſen Freundſchaft ſie ſelbſt fuͤr die nuͤtzlichſte und anſtaͤndigſte unter allen gehalten haͤtte, ehe dieſes Frauenzimmer ohne Verſchulden ungluͤcklich geworden waͤre.
Je groͤſſer der vorige Ruhm ſey, (ſagte ſie) deſto aͤrgerlicher ſey die Vergehung. Je kluͤger Sie waͤ- ren, deſto ſchaͤdlicher ſey Jhr Exempel.
Jch ſagte: es gebe noch andere Pflichten auſſer der Pflicht der Kinder gegen die Eltern; und ich glaubte nicht, daß ich ſchuldig waͤre, eine ungluͤck- liche Freundin zu verlaſſen, weil es die Uhrheber ihres Ungluͤcks verlangeten. Es waͤre ſehr hart, wenn dieſes ein Stuͤck meiner kindlichen Pflicht ſeyn ſollte, da doch beyderley Arten von Pflichten wohl mit einander beſtehen koͤnnten. Unbillige Be- fehle und Verbote waͤren eine Art der Tyranney: ich muͤßte ihr dieſes frey ſagen, wenn ſie mich gleich noch einmahl deswegen ſchlagen wollte. Jch haͤtte nie gedacht, daß man mir in dieſen Jahren verbie- ten wuͤrde einigen Willen und freye Wahl zu ha- ben, mit was vor Frauenzimmer ich umgehen ſollte: denn von den verdammten Manns-Leuten ſey jetzt im geringſten die Rede nicht.
Das wichtigſte, was ſie vorbringen konnte, gruͤn- dete ſich darauf, daß ich ihr nicht alle unſere Brieffe zeigen wollte. Sie machte viel Weſens hieruͤber, und ſagte: Sie befaͤnden ſich in der Gewalt des
groͤſ-
U 4
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0325"n="311"/><milestonerendition="#hr"unit="section"/><lb/>ſie auf meine Verheyrathung dencken koͤnnte, ſo<lb/>
muͤßte ſie mir auch ſo viel Verſtand zutrauen, daß<lb/>
ich meine Freundſchaften waͤhlen koͤnnte. Das<lb/>
muͤſſe inſonderheit in Abſicht auf ein ſolches Frau-<lb/>
enzimmer gelten, deſſen Freundſchaft ſie ſelbſt fuͤr<lb/>
die nuͤtzlichſte und anſtaͤndigſte unter allen gehalten<lb/>
haͤtte, ehe dieſes Frauenzimmer ohne Verſchulden<lb/>
ungluͤcklich geworden waͤre.</p><lb/><p>Je groͤſſer der vorige Ruhm ſey, (ſagte ſie) deſto<lb/>
aͤrgerlicher ſey die Vergehung. Je kluͤger Sie waͤ-<lb/>
ren, deſto ſchaͤdlicher ſey Jhr Exempel.</p><lb/><p>Jch ſagte: es gebe noch andere Pflichten auſſer<lb/>
der Pflicht der Kinder gegen die Eltern; und ich<lb/>
glaubte nicht, daß ich ſchuldig waͤre, eine ungluͤck-<lb/>
liche Freundin zu verlaſſen, weil es die Uhrheber<lb/>
ihres Ungluͤcks verlangeten. Es waͤre ſehr hart,<lb/>
wenn dieſes ein Stuͤck meiner kindlichen Pflicht<lb/>ſeyn ſollte, da doch beyderley Arten von Pflichten<lb/>
wohl mit einander beſtehen koͤnnten. Unbillige Be-<lb/>
fehle und Verbote waͤren eine Art der Tyranney:<lb/>
ich muͤßte ihr dieſes frey ſagen, wenn ſie mich gleich<lb/>
noch einmahl deswegen ſchlagen wollte. Jch haͤtte<lb/>
nie gedacht, daß man mir in dieſen Jahren verbie-<lb/>
ten wuͤrde einigen Willen und freye Wahl zu ha-<lb/>
ben, mit was vor Frauenzimmer ich umgehen ſollte:<lb/>
denn von den verdammten Manns-Leuten ſey jetzt<lb/>
im geringſten die Rede nicht.</p><lb/><p>Das wichtigſte, was ſie vorbringen konnte, gruͤn-<lb/>
dete ſich darauf, daß ich ihr nicht alle unſere Brieffe<lb/>
zeigen wollte. Sie machte viel Weſens hieruͤber,<lb/>
und ſagte: Sie befaͤnden ſich in der Gewalt des<lb/><fwplace="bottom"type="sig">U 4</fw><fwplace="bottom"type="catch">groͤſ-</fw><lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[311/0325]
ſie auf meine Verheyrathung dencken koͤnnte, ſo
muͤßte ſie mir auch ſo viel Verſtand zutrauen, daß
ich meine Freundſchaften waͤhlen koͤnnte. Das
muͤſſe inſonderheit in Abſicht auf ein ſolches Frau-
enzimmer gelten, deſſen Freundſchaft ſie ſelbſt fuͤr
die nuͤtzlichſte und anſtaͤndigſte unter allen gehalten
haͤtte, ehe dieſes Frauenzimmer ohne Verſchulden
ungluͤcklich geworden waͤre.
Je groͤſſer der vorige Ruhm ſey, (ſagte ſie) deſto
aͤrgerlicher ſey die Vergehung. Je kluͤger Sie waͤ-
ren, deſto ſchaͤdlicher ſey Jhr Exempel.
Jch ſagte: es gebe noch andere Pflichten auſſer
der Pflicht der Kinder gegen die Eltern; und ich
glaubte nicht, daß ich ſchuldig waͤre, eine ungluͤck-
liche Freundin zu verlaſſen, weil es die Uhrheber
ihres Ungluͤcks verlangeten. Es waͤre ſehr hart,
wenn dieſes ein Stuͤck meiner kindlichen Pflicht
ſeyn ſollte, da doch beyderley Arten von Pflichten
wohl mit einander beſtehen koͤnnten. Unbillige Be-
fehle und Verbote waͤren eine Art der Tyranney:
ich muͤßte ihr dieſes frey ſagen, wenn ſie mich gleich
noch einmahl deswegen ſchlagen wollte. Jch haͤtte
nie gedacht, daß man mir in dieſen Jahren verbie-
ten wuͤrde einigen Willen und freye Wahl zu ha-
ben, mit was vor Frauenzimmer ich umgehen ſollte:
denn von den verdammten Manns-Leuten ſey jetzt
im geringſten die Rede nicht.
Das wichtigſte, was ſie vorbringen konnte, gruͤn-
dete ſich darauf, daß ich ihr nicht alle unſere Brieffe
zeigen wollte. Sie machte viel Weſens hieruͤber,
und ſagte: Sie befaͤnden ſich in der Gewalt des
groͤſ-
U 4
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 3. Göttingen, 1749, S. 311. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa03_1749/325>, abgerufen am 22.12.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.