Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 3. Göttingen, 1749.

Bild:
<< vorherige Seite



ohnmöglich übel nehmen. Jch will mich desfals
wegen der Freyheit, die ich mir nehme, nicht ent-
schuldigen; ja ich brauche mich auch nicht zu ent-
schuldigen. Denn meine Erinnerung ist so von
allem Schein des Eigennutzes entfernet, daß Sie
mich vielmehr des einzigen Trostes beraubet, den
ich bisher genossen habe.

Jhr mürrisches Betragen gegen Jhre Mutter,
das Sie selbst nicht leugnen; daß Sie ihr einen
Brief aus der Hand gerissen haben, welchen zu sehen
Sie ihrer Meinung nach berechtiget war; daß Sie
ihn vor ihren Augen verbrannt haben; daß Sie sich
wegern, einen Herrn zu sprechen, der aus Geneigt-
heit gegen ihre unglückliche Freundin Jhnen so ge-
horsam gewesen ist, blos damit Sie Jhrer Frau
Mutter Verdruß machen möchten: alles dieses sind
Dinge, (und es ist doch nur die Hälfte von dem,
was an Jhrer Aufführung zu tadeln seyn könnte)
die schwerlich an einer Person zu entfchuldigen sind,
welche von ihrer Pflicht so vollständig unterrichtet
ist.

Jhre Frau Mutter hatte ehemahls eine bessere
Meinung von mir: eben deswegen ist Jhrem Ur-
theil mehr zu trauen, da sie glaubet, daß ich mich
ihrer guten Meinung unwürdig gemacht habe.
Denn eine Zuneigung ist sonst eben so schwer zu ü-
berwinden und ein eben so starckes Vorurtheil, als
eine Abneigung. Wie schwartz muß ihr demnach
meine Handlung vorkommen, da sie ihr gantzes
Hertz von mir abwendet, ob sie gleich nicht selbst
durch meine Uebereilung beleidiget ist?

Sie



ohnmoͤglich uͤbel nehmen. Jch will mich desfals
wegen der Freyheit, die ich mir nehme, nicht ent-
ſchuldigen; ja ich brauche mich auch nicht zu ent-
ſchuldigen. Denn meine Erinnerung iſt ſo von
allem Schein des Eigennutzes entfernet, daß Sie
mich vielmehr des einzigen Troſtes beraubet, den
ich bisher genoſſen habe.

Jhr muͤrriſches Betragen gegen Jhre Mutter,
das Sie ſelbſt nicht leugnen; daß Sie ihr einen
Brief aus der Hand geriſſen haben, welchen zu ſehen
Sie ihrer Meinung nach berechtiget war; daß Sie
ihn vor ihren Augen verbrannt haben; daß Sie ſich
wegern, einen Herrn zu ſprechen, der aus Geneigt-
heit gegen ihre ungluͤckliche Freundin Jhnen ſo ge-
horſam geweſen iſt, blos damit Sie Jhrer Frau
Mutter Verdruß machen moͤchten: alles dieſes ſind
Dinge, (und es iſt doch nur die Haͤlfte von dem,
was an Jhrer Auffuͤhrung zu tadeln ſeyn koͤnnte)
die ſchwerlich an einer Perſon zu entfchuldigen ſind,
welche von ihrer Pflicht ſo vollſtaͤndig unterrichtet
iſt.

Jhre Frau Mutter hatte ehemahls eine beſſere
Meinung von mir: eben deswegen iſt Jhrem Ur-
theil mehr zu trauen, da ſie glaubet, daß ich mich
ihrer guten Meinung unwuͤrdig gemacht habe.
Denn eine Zuneigung iſt ſonſt eben ſo ſchwer zu uͤ-
berwinden und ein eben ſo ſtarckes Vorurtheil, als
eine Abneigung. Wie ſchwartz muß ihr demnach
meine Handlung vorkommen, da ſie ihr gantzes
Hertz von mir abwendet, ob ſie gleich nicht ſelbſt
durch meine Uebereilung beleidiget iſt?

Sie
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0330" n="316"/><milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
ohnmo&#x0364;glich u&#x0364;bel nehmen. Jch will mich desfals<lb/>
wegen der Freyheit, die ich mir nehme, nicht ent-<lb/>
&#x017F;chuldigen; ja ich brauche mich auch nicht zu ent-<lb/>
&#x017F;chuldigen. Denn meine Erinnerung i&#x017F;t &#x017F;o von<lb/>
allem Schein des Eigennutzes entfernet, daß Sie<lb/>
mich vielmehr des einzigen Tro&#x017F;tes beraubet, den<lb/>
ich bisher geno&#x017F;&#x017F;en habe.</p><lb/>
          <p>Jhr mu&#x0364;rri&#x017F;ches Betragen gegen Jhre Mutter,<lb/>
das Sie &#x017F;elb&#x017F;t nicht leugnen; daß Sie ihr einen<lb/>
Brief aus der Hand geri&#x017F;&#x017F;en haben, welchen zu &#x017F;ehen<lb/>
Sie ihrer Meinung nach berechtiget war; daß Sie<lb/>
ihn vor ihren Augen verbrannt haben; daß Sie &#x017F;ich<lb/>
wegern, einen Herrn zu &#x017F;prechen, der aus Geneigt-<lb/>
heit gegen ihre unglu&#x0364;ckliche Freundin Jhnen &#x017F;o ge-<lb/>
hor&#x017F;am gewe&#x017F;en i&#x017F;t, blos damit Sie Jhrer Frau<lb/>
Mutter Verdruß machen mo&#x0364;chten: alles die&#x017F;es &#x017F;ind<lb/>
Dinge, (und es i&#x017F;t doch nur die Ha&#x0364;lfte von dem,<lb/>
was an Jhrer Auffu&#x0364;hrung zu tadeln &#x017F;eyn ko&#x0364;nnte)<lb/>
die &#x017F;chwerlich an einer Per&#x017F;on zu entfchuldigen &#x017F;ind,<lb/>
welche von ihrer Pflicht &#x017F;o voll&#x017F;ta&#x0364;ndig unterrichtet<lb/>
i&#x017F;t.</p><lb/>
          <p>Jhre Frau Mutter hatte ehemahls eine be&#x017F;&#x017F;ere<lb/>
Meinung von mir: eben deswegen i&#x017F;t Jhrem Ur-<lb/>
theil mehr zu trauen, da &#x017F;ie glaubet, daß ich mich<lb/>
ihrer guten Meinung unwu&#x0364;rdig gemacht habe.<lb/>
Denn eine Zuneigung i&#x017F;t &#x017F;on&#x017F;t eben &#x017F;o &#x017F;chwer zu u&#x0364;-<lb/>
berwinden und ein eben &#x017F;o &#x017F;tarckes Vorurtheil, als<lb/>
eine Abneigung. Wie &#x017F;chwartz muß ihr demnach<lb/>
meine Handlung vorkommen, da &#x017F;ie ihr gantzes<lb/>
Hertz von mir abwendet, ob &#x017F;ie gleich nicht &#x017F;elb&#x017F;t<lb/>
durch meine Uebereilung beleidiget i&#x017F;t?</p><lb/>
          <fw place="bottom" type="catch">Sie</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[316/0330] ohnmoͤglich uͤbel nehmen. Jch will mich desfals wegen der Freyheit, die ich mir nehme, nicht ent- ſchuldigen; ja ich brauche mich auch nicht zu ent- ſchuldigen. Denn meine Erinnerung iſt ſo von allem Schein des Eigennutzes entfernet, daß Sie mich vielmehr des einzigen Troſtes beraubet, den ich bisher genoſſen habe. Jhr muͤrriſches Betragen gegen Jhre Mutter, das Sie ſelbſt nicht leugnen; daß Sie ihr einen Brief aus der Hand geriſſen haben, welchen zu ſehen Sie ihrer Meinung nach berechtiget war; daß Sie ihn vor ihren Augen verbrannt haben; daß Sie ſich wegern, einen Herrn zu ſprechen, der aus Geneigt- heit gegen ihre ungluͤckliche Freundin Jhnen ſo ge- horſam geweſen iſt, blos damit Sie Jhrer Frau Mutter Verdruß machen moͤchten: alles dieſes ſind Dinge, (und es iſt doch nur die Haͤlfte von dem, was an Jhrer Auffuͤhrung zu tadeln ſeyn koͤnnte) die ſchwerlich an einer Perſon zu entfchuldigen ſind, welche von ihrer Pflicht ſo vollſtaͤndig unterrichtet iſt. Jhre Frau Mutter hatte ehemahls eine beſſere Meinung von mir: eben deswegen iſt Jhrem Ur- theil mehr zu trauen, da ſie glaubet, daß ich mich ihrer guten Meinung unwuͤrdig gemacht habe. Denn eine Zuneigung iſt ſonſt eben ſo ſchwer zu uͤ- berwinden und ein eben ſo ſtarckes Vorurtheil, als eine Abneigung. Wie ſchwartz muß ihr demnach meine Handlung vorkommen, da ſie ihr gantzes Hertz von mir abwendet, ob ſie gleich nicht ſelbſt durch meine Uebereilung beleidiget iſt? Sie

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa03_1749
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa03_1749/330
Zitationshilfe: [Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 3. Göttingen, 1749, S. 316. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa03_1749/330>, abgerufen am 22.12.2024.