wir gereitzet werden für einen Fehler. Allein was machen wir? wir beyde loben das an uns, was wir nicht ändern können, und vielleicht nicht ändern wollen. Würde es nicht uns beyden verdrießlich seyn unsere Gewohnheit und unsern alten Weg zu verlassen? Wir hätscheln beyderseits die uns ange- bohrne Neigungen. Heist das nicht recht aus der Noth eine Tugend machen?
Sollte aber Jhr Bild und mein Bild nach der grössesten Aehnlichkeit geschildert werden, so werden Sie mir zugeben, daß ein jeder, der die Menschen kennet, mein Bild für das natürlichste halten wür- de. Bey einem schönen Gemählde ist der Schatten eben so unentbehrlich als das Licht. Jhr Bildniß würde einen solchen Schein und Glantz haben, der uns nur blenden und abschrecken würde Jhnen nach- zuahmen. Jch wünsche, daß Jhre Gütigkeit nie- mahls niederträchtige Leute reitzen möge Sie zu beleydigen. Mein dreisteres und heftigeres Gemü- the schrecket manchen hievon ab: und deswegen habe ich nicht eben Lust mit Jhnen zu tauschen, ob ich gleich weiß, daß mein Gemüth nicht so liebens- würdig ist als das Jhrige.
Jch würde ohne Entschuldigung seyn, wenn ich mich unterstünde einer Mutter zu widersprechen, die etwas gleiches mit Jhnen hätte. Die Wahrheit bleibt Wahrheit: und es wäre unbillig, wenn ein kleiner Geist eben das Lob erhalten sollte, das einem grossen Geist gebühret. Wenn alle Leute so nach der Wahrheit redeten als ich, das ist, wenn sie Lob und Tadel nur nach Verdiensten austheileten, so
würde
wir gereitzet werden fuͤr einen Fehler. Allein was machen wir? wir beyde loben das an uns, was wir nicht aͤndern koͤnnen, und vielleicht nicht aͤndern wollen. Wuͤrde es nicht uns beyden verdrießlich ſeyn unſere Gewohnheit und unſern alten Weg zu verlaſſen? Wir haͤtſcheln beyderſeits die uns ange- bohrne Neigungen. Heiſt das nicht recht aus der Noth eine Tugend machen?
Sollte aber Jhr Bild und mein Bild nach der groͤſſeſten Aehnlichkeit geſchildert werden, ſo werden Sie mir zugeben, daß ein jeder, der die Menſchen kennet, mein Bild fuͤr das natuͤrlichſte halten wuͤr- de. Bey einem ſchoͤnen Gemaͤhlde iſt der Schatten eben ſo unentbehrlich als das Licht. Jhr Bildniß wuͤrde einen ſolchen Schein und Glantz haben, der uns nur blenden und abſchrecken wuͤrde Jhnen nach- zuahmen. Jch wuͤnſche, daß Jhre Guͤtigkeit nie- mahls niedertraͤchtige Leute reitzen moͤge Sie zu beleydigen. Mein dreiſteres und heftigeres Gemuͤ- the ſchrecket manchen hievon ab: und deswegen habe ich nicht eben Luſt mit Jhnen zu tauſchen, ob ich gleich weiß, daß mein Gemuͤth nicht ſo liebens- wuͤrdig iſt als das Jhrige.
Jch wuͤrde ohne Entſchuldigung ſeyn, wenn ich mich unterſtuͤnde einer Mutter zu widerſprechen, die etwas gleiches mit Jhnen haͤtte. Die Wahrheit bleibt Wahrheit: und es waͤre unbillig, wenn ein kleiner Geiſt eben das Lob erhalten ſollte, das einem groſſen Geiſt gebuͤhret. Wenn alle Leute ſo nach der Wahrheit redeten als ich, das iſt, wenn ſie Lob und Tadel nur nach Verdienſten austheileten, ſo
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wir gereitzet werden fuͤr einen Fehler. Allein was
machen wir? wir beyde loben das an uns, was
wir nicht aͤndern koͤnnen, und vielleicht nicht aͤndern
wollen. Wuͤrde es nicht uns beyden verdrießlich
ſeyn unſere Gewohnheit und unſern alten Weg zu
verlaſſen? Wir haͤtſcheln beyderſeits die uns ange-
bohrne Neigungen. Heiſt das nicht recht aus der
Noth eine Tugend machen?
Sollte aber Jhr Bild und mein Bild nach der
groͤſſeſten Aehnlichkeit geſchildert werden, ſo werden
Sie mir zugeben, daß ein jeder, der die Menſchen
kennet, mein Bild fuͤr das natuͤrlichſte halten wuͤr-
de. Bey einem ſchoͤnen Gemaͤhlde iſt der Schatten
eben ſo unentbehrlich als das Licht. Jhr Bildniß
wuͤrde einen ſolchen Schein und Glantz haben, der
uns nur blenden und abſchrecken wuͤrde Jhnen nach-
zuahmen. Jch wuͤnſche, daß Jhre Guͤtigkeit nie-
mahls niedertraͤchtige Leute reitzen moͤge Sie zu
beleydigen. Mein dreiſteres und heftigeres Gemuͤ-
the ſchrecket manchen hievon ab: und deswegen
habe ich nicht eben Luſt mit Jhnen zu tauſchen, ob
ich gleich weiß, daß mein Gemuͤth nicht ſo liebens-
wuͤrdig iſt als das Jhrige.
Jch wuͤrde ohne Entſchuldigung ſeyn, wenn ich
mich unterſtuͤnde einer Mutter zu widerſprechen, die
etwas gleiches mit Jhnen haͤtte. Die Wahrheit
bleibt Wahrheit: und es waͤre unbillig, wenn ein
kleiner Geiſt eben das Lob erhalten ſollte, das einem
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der Wahrheit redeten als ich, das iſt, wenn ſie Lob
und Tadel nur nach Verdienſten austheileten, ſo
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[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 3. Göttingen, 1749, S. 333. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa03_1749/347>, abgerufen am 22.12.2024.
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