Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 3. Göttingen, 1749.

Bild:
<< vorherige Seite



kommen. Jch will mich vielmehr freuen, daß
sie einmahl über den Rubicon gegangen ist: Daß
sie jetzt nicht wieder zurück kann: daß ihre unver-
söhnlichen Anverwanten glauben werden, sie habe
nach eigener Wahl die Flucht ergriffen; um daß
ich sie auf eine ihr empfindliche und meinem Stoltz
sehr angenehme Art auf die Probe setzen kann, wenn
ich Ursach finde, an ihrer Liebe zu mir zu zweifeln.
Denn glaube mir, so zärtlich ich sie liebe, so woll-
te ich ihrer doch nicht schonen, wenn ich in ihrem
Gemüth nur einen Schatten des Zweiffels fände,
ob sie mich allen andern meines Geschlechts vor-
zöge.

Dienstages, um Tages Anbruch.

Auf den Flügeln der Liebe fliege ich eben zu mei-
nem Entzücken hin, zu dem schönen Kinde, das
vielleicht eben aufsteht, um die träge Morgenröthe
zum Eylen zu bewegen. Jch habe in den andert-
halb Stunden, in welchen ich mich niederlegte, den
Gott des Schlaafs anzuruffen, kein Auge zuge-
than. Jch scheine nicht mehr so materiel zu seyn,
daß ich die abgehende Kräffte des Leibes durch den
Schlaaf zu ersetzen nöthig habe.

Allein mein unvergleichliches Kind, warum sehe
ich an dir nichts als hertzbrechenden Kummer? in
dem Wagen? in dem Wirthshause? bey dem Aus-
steigen? da du doch so heftig gedrücket bist? da du
in so grosser Gefahr standest zu dem gezwungen zu
werden, was dein grössester Abscheu war? War-
um lässest du dich deine Flucht, die eben in dem ent-

schei-



kommen. Jch will mich vielmehr freuen, daß
ſie einmahl uͤber den Rubicon gegangen iſt: Daß
ſie jetzt nicht wieder zuruͤck kann: daß ihre unver-
ſoͤhnlichen Anverwanten glauben werden, ſie habe
nach eigener Wahl die Flucht ergriffen; um daß
ich ſie auf eine ihr empfindliche und meinem Stoltz
ſehr angenehme Art auf die Probe ſetzen kann, wenn
ich Urſach finde, an ihrer Liebe zu mir zu zweifeln.
Denn glaube mir, ſo zaͤrtlich ich ſie liebe, ſo woll-
te ich ihrer doch nicht ſchonen, wenn ich in ihrem
Gemuͤth nur einen Schatten des Zweiffels faͤnde,
ob ſie mich allen andern meines Geſchlechts vor-
zoͤge.

Dienſtages, um Tages Anbruch.

Auf den Fluͤgeln der Liebe fliege ich eben zu mei-
nem Entzuͤcken hin, zu dem ſchoͤnen Kinde, das
vielleicht eben aufſteht, um die traͤge Morgenroͤthe
zum Eylen zu bewegen. Jch habe in den andert-
halb Stunden, in welchen ich mich niederlegte, den
Gott des Schlaafs anzuruffen, kein Auge zuge-
than. Jch ſcheine nicht mehr ſo materiel zu ſeyn,
daß ich die abgehende Kraͤffte des Leibes durch den
Schlaaf zu erſetzen noͤthig habe.

Allein mein unvergleichliches Kind, warum ſehe
ich an dir nichts als hertzbrechenden Kummer? in
dem Wagen? in dem Wirthshauſe? bey dem Aus-
ſteigen? da du doch ſo heftig gedruͤcket biſt? da du
in ſo groſſer Gefahr ſtandeſt zu dem gezwungen zu
werden, was dein groͤſſeſter Abſcheu war? War-
um laͤſſeſt du dich deine Flucht, die eben in dem ent-

ſchei-
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0061" n="47"/><milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
kommen. Jch will mich vielmehr freuen, daß<lb/>
&#x017F;ie einmahl u&#x0364;ber den <hi rendition="#fr">Rubicon</hi> gegangen i&#x017F;t: Daß<lb/>
&#x017F;ie jetzt nicht wieder zuru&#x0364;ck kann: daß ihre unver-<lb/>
&#x017F;o&#x0364;hnlichen Anverwanten glauben werden, &#x017F;ie habe<lb/>
nach eigener Wahl die Flucht ergriffen; um daß<lb/>
ich &#x017F;ie auf eine ihr empfindliche und meinem Stoltz<lb/>
&#x017F;ehr angenehme Art auf die Probe &#x017F;etzen kann, wenn<lb/>
ich Ur&#x017F;ach finde, an ihrer Liebe zu mir zu zweifeln.<lb/>
Denn glaube mir, &#x017F;o za&#x0364;rtlich ich &#x017F;ie liebe, &#x017F;o woll-<lb/>
te ich ihrer doch nicht &#x017F;chonen, wenn ich in ihrem<lb/>
Gemu&#x0364;th nur einen Schatten des Zweiffels fa&#x0364;nde,<lb/>
ob &#x017F;ie mich allen andern meines Ge&#x017F;chlechts vor-<lb/>
zo&#x0364;ge.</p><lb/>
          <p> <hi rendition="#et">Dien&#x017F;tages, um Tages Anbruch.</hi> </p><lb/>
          <p>Auf den Flu&#x0364;geln der Liebe fliege ich eben zu mei-<lb/>
nem Entzu&#x0364;cken hin, zu dem &#x017F;cho&#x0364;nen Kinde, das<lb/>
vielleicht eben auf&#x017F;teht, um die tra&#x0364;ge Morgenro&#x0364;the<lb/>
zum Eylen zu bewegen. Jch habe in den andert-<lb/>
halb Stunden, in welchen ich mich niederlegte, den<lb/>
Gott des Schlaafs anzuruffen, kein Auge zuge-<lb/>
than. Jch &#x017F;cheine nicht mehr &#x017F;o materiel zu &#x017F;eyn,<lb/>
daß ich die abgehende Kra&#x0364;ffte des Leibes durch den<lb/>
Schlaaf zu er&#x017F;etzen no&#x0364;thig habe.</p><lb/>
          <p>Allein mein unvergleichliches Kind, warum &#x017F;ehe<lb/>
ich an dir nichts als hertzbrechenden Kummer? in<lb/>
dem Wagen? in dem Wirthshau&#x017F;e? bey dem Aus-<lb/>
&#x017F;teigen? da du doch &#x017F;o heftig gedru&#x0364;cket bi&#x017F;t? da du<lb/>
in &#x017F;o gro&#x017F;&#x017F;er Gefahr &#x017F;tande&#x017F;t zu dem gezwungen zu<lb/>
werden, was dein gro&#x0364;&#x017F;&#x017F;e&#x017F;ter Ab&#x017F;cheu war? War-<lb/>
um la&#x0364;&#x017F;&#x017F;e&#x017F;t du dich deine Flucht, die eben in dem ent-<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">&#x017F;chei-</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[47/0061] kommen. Jch will mich vielmehr freuen, daß ſie einmahl uͤber den Rubicon gegangen iſt: Daß ſie jetzt nicht wieder zuruͤck kann: daß ihre unver- ſoͤhnlichen Anverwanten glauben werden, ſie habe nach eigener Wahl die Flucht ergriffen; um daß ich ſie auf eine ihr empfindliche und meinem Stoltz ſehr angenehme Art auf die Probe ſetzen kann, wenn ich Urſach finde, an ihrer Liebe zu mir zu zweifeln. Denn glaube mir, ſo zaͤrtlich ich ſie liebe, ſo woll- te ich ihrer doch nicht ſchonen, wenn ich in ihrem Gemuͤth nur einen Schatten des Zweiffels faͤnde, ob ſie mich allen andern meines Geſchlechts vor- zoͤge. Dienſtages, um Tages Anbruch. Auf den Fluͤgeln der Liebe fliege ich eben zu mei- nem Entzuͤcken hin, zu dem ſchoͤnen Kinde, das vielleicht eben aufſteht, um die traͤge Morgenroͤthe zum Eylen zu bewegen. Jch habe in den andert- halb Stunden, in welchen ich mich niederlegte, den Gott des Schlaafs anzuruffen, kein Auge zuge- than. Jch ſcheine nicht mehr ſo materiel zu ſeyn, daß ich die abgehende Kraͤffte des Leibes durch den Schlaaf zu erſetzen noͤthig habe. Allein mein unvergleichliches Kind, warum ſehe ich an dir nichts als hertzbrechenden Kummer? in dem Wagen? in dem Wirthshauſe? bey dem Aus- ſteigen? da du doch ſo heftig gedruͤcket biſt? da du in ſo groſſer Gefahr ſtandeſt zu dem gezwungen zu werden, was dein groͤſſeſter Abſcheu war? War- um laͤſſeſt du dich deine Flucht, die eben in dem ent- ſchei-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa03_1749
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa03_1749/61
Zitationshilfe: [Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 3. Göttingen, 1749, S. 47. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa03_1749/61>, abgerufen am 22.12.2024.