Jch sagte nur: ich hielte mich vor sehr unglück- lich. Jch wüßte gar nicht, wozu ich mich ent- schließen sollte. Mein guter Nahme müßte ohne Zweiffel völlig verlohren seyn. Es fehle mir an Kleidung, mich vor jemand sehen zu lassen. Selbst mein Mangel müßte allen die mich sehen, ein Zeugniß meines Unverstandes seyn. Jeder- mann würde glauben, daß ich übervortheilt sey, oder ihm einen unerlaubten Vortheil über mich ge- geben hätte, und weder von meinen Entschließun- gen noch von meinen Handlungen Meister wäre. Jch könnte nicht anders dencken, als daß er arg- listig mit mir umgegangen sey. Er schiene sich nach meiner Schwäche, Unerfahrenheit und Ju- gend in Erdenckung eines Kunststücks gerichtet zu haben. Jch könnte es mir selbst ohnmöglich ver- geben, daß ich zu der Unterredung mit ihm ge- kommen sey. Mein Hertz blutete mir im Leibe, wenn ich an den Kummer meiner Eltern gedächte. Jch wollte gern die gantze Welt und alles was ich in der Welt hoffete, dafür geben, daß ich jetzt in meines Vaters Hause seyn möchte, es möchten auch die Folgen noch so schlimm ge- wesen seyn. Er möchte sagen was er wollte, so fände ich doch in seiner Liebe etwas niedriges und eigennütziges, da er sich hätte entschließen können, ein junges Kind zu verleiten, daß es seine Pflicht und Gewissen verletzte. Eine edle Liebe müsse su- chen zu der Ehre und Gemüths-Ruhe der Ge- liebten alles mögliche beyzutragen.
Er
Jch ſagte nur: ich hielte mich vor ſehr ungluͤck- lich. Jch wuͤßte gar nicht, wozu ich mich ent- ſchließen ſollte. Mein guter Nahme muͤßte ohne Zweiffel voͤllig verlohren ſeyn. Es fehle mir an Kleidung, mich vor jemand ſehen zu laſſen. Selbſt mein Mangel muͤßte allen die mich ſehen, ein Zeugniß meines Unverſtandes ſeyn. Jeder- mann wuͤrde glauben, daß ich uͤbervortheilt ſey, oder ihm einen unerlaubten Vortheil uͤber mich ge- geben haͤtte, und weder von meinen Entſchließun- gen noch von meinen Handlungen Meiſter waͤre. Jch koͤnnte nicht anders dencken, als daß er arg- liſtig mit mir umgegangen ſey. Er ſchiene ſich nach meiner Schwaͤche, Unerfahrenheit und Ju- gend in Erdenckung eines Kunſtſtuͤcks gerichtet zu haben. Jch koͤnnte es mir ſelbſt ohnmoͤglich ver- geben, daß ich zu der Unterredung mit ihm ge- kommen ſey. Mein Hertz blutete mir im Leibe, wenn ich an den Kummer meiner Eltern gedaͤchte. Jch wollte gern die gantze Welt und alles was ich in der Welt hoffete, dafuͤr geben, daß ich jetzt in meines Vaters Hauſe ſeyn moͤchte, es moͤchten auch die Folgen noch ſo ſchlimm ge- weſen ſeyn. Er moͤchte ſagen was er wollte, ſo faͤnde ich doch in ſeiner Liebe etwas niedriges und eigennuͤtziges, da er ſich haͤtte entſchließen koͤnnen, ein junges Kind zu verleiten, daß es ſeine Pflicht und Gewiſſen verletzte. Eine edle Liebe muͤſſe ſu- chen zu der Ehre und Gemuͤths-Ruhe der Ge- liebten alles moͤgliche beyzutragen.
Er
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Jch ſagte nur: ich hielte mich vor ſehr ungluͤck-
lich. Jch wuͤßte gar nicht, wozu ich mich ent-
ſchließen ſollte. Mein guter Nahme muͤßte ohne
Zweiffel voͤllig verlohren ſeyn. Es fehle mir an
Kleidung, mich vor jemand ſehen zu laſſen.
Selbſt mein Mangel muͤßte allen die mich ſehen,
ein Zeugniß meines Unverſtandes ſeyn. Jeder-
mann wuͤrde glauben, daß ich uͤbervortheilt ſey,
oder ihm einen unerlaubten Vortheil uͤber mich ge-
geben haͤtte, und weder von meinen Entſchließun-
gen noch von meinen Handlungen Meiſter waͤre.
Jch koͤnnte nicht anders dencken, als daß er arg-
liſtig mit mir umgegangen ſey. Er ſchiene ſich
nach meiner Schwaͤche, Unerfahrenheit und Ju-
gend in Erdenckung eines Kunſtſtuͤcks gerichtet zu
haben. Jch koͤnnte es mir ſelbſt ohnmoͤglich ver-
geben, daß ich zu der Unterredung mit ihm ge-
kommen ſey. Mein Hertz blutete mir im Leibe,
wenn ich an den Kummer meiner Eltern gedaͤchte.
Jch wollte gern die gantze Welt und alles
was ich in der Welt hoffete, dafuͤr geben,
daß ich jetzt in meines Vaters Hauſe ſeyn moͤchte,
es moͤchten auch die Folgen noch ſo ſchlimm ge-
weſen ſeyn. Er moͤchte ſagen was er wollte, ſo
faͤnde ich doch in ſeiner Liebe etwas niedriges und
eigennuͤtziges, da er ſich haͤtte entſchließen koͤnnen,
ein junges Kind zu verleiten, daß es ſeine Pflicht
und Gewiſſen verletzte. Eine edle Liebe muͤſſe ſu-
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[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 3. Göttingen, 1749, S. 56. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa03_1749/70>, abgerufen am 22.12.2024.
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