ich ihnen aber in meinen jetzigen Umständen eine bessere Meinung beybringen?
Er sagt: Sie nähmen meine Flucht sehr übel auf; allein sie schienen nicht so wohl betrübt als erbittert und rasend zu seyn. Er könnte kaum die Geduld haben, alle giftige Reden und Drohungen meines Bruders gegen sich zu dulden. - - Alle diese Geduld wird mir als ein neues Verdienst um mich auf die Rechnung geschrieben.
Was für einen Trost habe ich durch diese eintzi- ge Uebereilung verlohren! zu späte sehe ich, was es für eine verschiedene Sache ist, der beleydi- gende und der beleydigte Theil zu seyn. Wie viel wollte ich geben, wenn ich dadurch das Glück erkauffen könnte, daß ich noch jetzt sagen könnte, ich litte Unrecht, ohne Unrecht zu thun! und daß andere mir lieblos begegneten, ohne daß ich meine Pflicht gegen die, denen ich Pflicht und Gehor- sam schuldig bin, aus den Augen setzte!
Mir eckelt vor mir selbst, daß ich den Verfüh- rer einer Unterredung gewürdiget habe. Wenn sich gleich alles glücklich endiget, so habe ich doch für mein Gewissen einen Schatz des Kummers ge- sammelt, der sich nicht eher als mit meinem Tode endigen wird.
Am meisten bekümmert mich dieses; je öfter ich den Menschen sehe, desto zweifelhafter werde ich, was ich aus ihm machen soll. Jch belaure alle seine Gesichts-Züge; allein sie kommen mir je länger desto unerforschlicher vor. Man kann an seiner Stirne lesen, daß er Absichten haben muß:
er
ich ihnen aber in meinen jetzigen Umſtaͤnden eine beſſere Meinung beybringen?
Er ſagt: Sie naͤhmen meine Flucht ſehr uͤbel auf; allein ſie ſchienen nicht ſo wohl betruͤbt als erbittert und raſend zu ſeyn. Er koͤnnte kaum die Geduld haben, alle giftige Reden und Drohungen meines Bruders gegen ſich zu dulden. ‒ ‒ Alle dieſe Geduld wird mir als ein neues Verdienſt um mich auf die Rechnung geſchrieben.
Was fuͤr einen Troſt habe ich durch dieſe eintzi- ge Uebereilung verlohren! zu ſpaͤte ſehe ich, was es fuͤr eine verſchiedene Sache iſt, der beleydi- gende und der beleydigte Theil zu ſeyn. Wie viel wollte ich geben, wenn ich dadurch das Gluͤck erkauffen koͤnnte, daß ich noch jetzt ſagen koͤnnte, ich litte Unrecht, ohne Unrecht zu thun! und daß andere mir lieblos begegneten, ohne daß ich meine Pflicht gegen die, denen ich Pflicht und Gehor- ſam ſchuldig bin, aus den Augen ſetzte!
Mir eckelt vor mir ſelbſt, daß ich den Verfuͤh- rer einer Unterredung gewuͤrdiget habe. Wenn ſich gleich alles gluͤcklich endiget, ſo habe ich doch fuͤr mein Gewiſſen einen Schatz des Kummers ge- ſammelt, der ſich nicht eher als mit meinem Tode endigen wird.
Am meiſten bekuͤmmert mich dieſes; je oͤfter ich den Menſchen ſehe, deſto zweifelhafter werde ich, was ich aus ihm machen ſoll. Jch belaure alle ſeine Geſichts-Zuͤge; allein ſie kommen mir je laͤnger deſto unerforſchlicher vor. Man kann an ſeiner Stirne leſen, daß er Abſichten haben muß:
er
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ich ihnen aber in meinen jetzigen Umſtaͤnden eine
beſſere Meinung beybringen?
Er ſagt: Sie naͤhmen meine Flucht ſehr uͤbel
auf; allein ſie ſchienen nicht ſo wohl betruͤbt als
erbittert und raſend zu ſeyn. Er koͤnnte kaum die
Geduld haben, alle giftige Reden und Drohungen
meines Bruders gegen ſich zu dulden. ‒ ‒ Alle
dieſe Geduld wird mir als ein neues Verdienſt um
mich auf die Rechnung geſchrieben.
Was fuͤr einen Troſt habe ich durch dieſe eintzi-
ge Uebereilung verlohren! zu ſpaͤte ſehe ich, was
es fuͤr eine verſchiedene Sache iſt, der beleydi-
gende und der beleydigte Theil zu ſeyn. Wie
viel wollte ich geben, wenn ich dadurch das Gluͤck
erkauffen koͤnnte, daß ich noch jetzt ſagen koͤnnte,
ich litte Unrecht, ohne Unrecht zu thun! und daß
andere mir lieblos begegneten, ohne daß ich meine
Pflicht gegen die, denen ich Pflicht und Gehor-
ſam ſchuldig bin, aus den Augen ſetzte!
Mir eckelt vor mir ſelbſt, daß ich den Verfuͤh-
rer einer Unterredung gewuͤrdiget habe. Wenn
ſich gleich alles gluͤcklich endiget, ſo habe ich doch
fuͤr mein Gewiſſen einen Schatz des Kummers ge-
ſammelt, der ſich nicht eher als mit meinem Tode
endigen wird.
Am meiſten bekuͤmmert mich dieſes; je oͤfter ich
den Menſchen ſehe, deſto zweifelhafter werde ich,
was ich aus ihm machen ſoll. Jch belaure alle
ſeine Geſichts-Zuͤge; allein ſie kommen mir je
laͤnger deſto unerforſchlicher vor. Man kann an
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[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 3. Göttingen, 1749, S. 80. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa03_1749/94>, abgerufen am 22.12.2024.
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