Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 5. Göttingen, 1750.

Bild:
<< vorherige Seite


Haben wir beyde, Belford, nicht junge Wei-
ber gesehn, die man hätte für bescheiden halten
sollen, und die auch in ihrem ledigen Stande
wahnwitzig schüchtern waren? Haben wir nicht
gesehn, wie eben diese ihren löffelnden Männern
öffentlich Freyheiten verstatteten, die genugsam
bewiesen, daß sie die Pflichten der Klugheit oder
des Wohlstandes vergessen hätten: da unterdes-
sen alle bescheidne Augen sich vor der unverschäm-
ten Dreistigkeit zuschlossen, und ein jedes bescheid-
nes Angesicht für jene, die nicht erröthen konn-
ten; sich über und über vor Schaam verfärbte?

Jch that einstens bey einer solchen Gelegen-
heit einer Gesellschaft von etwa einem Dutzend
Personen, denen auf die Art ein Aergerniß gege-
ben wurde, den Vorschlag sich zu entfernen, in-
dem sie ja nothwendig einsehen müßten, daß die
Gemahlinn sowohl als der Cavallier, nöthig hät-
ten, allein zu seyn. Dieser Vorschlag hatte an
dem verliebten Paar seine Wirkung; und ich
ward für den Verweis, den ich ihnen ihrer aus-
gelassenen Freyheit wegen gegeben hatte, mit gro-
ßem Beyfall erhoben.

Allein bey einer andern Gelegenheit von die-
ser Art handelte ich dem gemeinen Ruf von mir
ein wenig mehr gemäß. Denn ich wagte es, ei-
ne Braut in Versuchung zu führen. Dazu
wäre ich gewiß nicht dreist genug gewesen: wenn
das unverschämte und bloß leidende Verhalten,
wom it sie ihres in sie vergafften Liebsten öffentli-
che Tändeleyen annahm, und dabey mehr mit

Froh-


Haben wir beyde, Belford, nicht junge Wei-
ber geſehn, die man haͤtte fuͤr beſcheiden halten
ſollen, und die auch in ihrem ledigen Stande
wahnwitzig ſchuͤchtern waren? Haben wir nicht
geſehn, wie eben dieſe ihren loͤffelnden Maͤnnern
oͤffentlich Freyheiten verſtatteten, die genugſam
bewieſen, daß ſie die Pflichten der Klugheit oder
des Wohlſtandes vergeſſen haͤtten: da unterdeſ-
ſen alle beſcheidne Augen ſich vor der unverſchaͤm-
ten Dreiſtigkeit zuſchloſſen, und ein jedes beſcheid-
nes Angeſicht fuͤr jene, die nicht erroͤthen konn-
ten; ſich uͤber und uͤber vor Schaam verfaͤrbte?

Jch that einſtens bey einer ſolchen Gelegen-
heit einer Geſellſchaft von etwa einem Dutzend
Perſonen, denen auf die Art ein Aergerniß gege-
ben wurde, den Vorſchlag ſich zu entfernen, in-
dem ſie ja nothwendig einſehen muͤßten, daß die
Gemahlinn ſowohl als der Cavallier, noͤthig haͤt-
ten, allein zu ſeyn. Dieſer Vorſchlag hatte an
dem verliebten Paar ſeine Wirkung; und ich
ward fuͤr den Verweis, den ich ihnen ihrer aus-
gelaſſenen Freyheit wegen gegeben hatte, mit gro-
ßem Beyfall erhoben.

Allein bey einer andern Gelegenheit von die-
ſer Art handelte ich dem gemeinen Ruf von mir
ein wenig mehr gemaͤß. Denn ich wagte es, ei-
ne Braut in Verſuchung zu fuͤhren. Dazu
waͤre ich gewiß nicht dreiſt genug geweſen: wenn
das unverſchaͤmte und bloß leidende Verhalten,
wom it ſie ihres in ſie vergafften Liebſten oͤffentli-
che Taͤndeleyen annahm, und dabey mehr mit

Froh-
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <pb facs="#f0010" n="4"/>
            <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
            <p>Haben wir beyde, Belford, nicht junge Wei-<lb/>
ber ge&#x017F;ehn, die man ha&#x0364;tte fu&#x0364;r be&#x017F;cheiden halten<lb/>
&#x017F;ollen, und die auch in ihrem ledigen Stande<lb/>
wahnwitzig &#x017F;chu&#x0364;chtern waren? Haben wir nicht<lb/>
ge&#x017F;ehn, wie eben die&#x017F;e ihren lo&#x0364;ffelnden Ma&#x0364;nnern<lb/>
o&#x0364;ffentlich Freyheiten ver&#x017F;tatteten, die genug&#x017F;am<lb/>
bewie&#x017F;en, daß &#x017F;ie die Pflichten der Klugheit oder<lb/>
des Wohl&#x017F;tandes verge&#x017F;&#x017F;en ha&#x0364;tten: da unterde&#x017F;-<lb/>
&#x017F;en alle be&#x017F;cheidne Augen &#x017F;ich vor der unver&#x017F;cha&#x0364;m-<lb/>
ten Drei&#x017F;tigkeit zu&#x017F;chlo&#x017F;&#x017F;en, und ein jedes be&#x017F;cheid-<lb/>
nes Ange&#x017F;icht fu&#x0364;r jene, die nicht erro&#x0364;then konn-<lb/>
ten; &#x017F;ich u&#x0364;ber und u&#x0364;ber vor Schaam verfa&#x0364;rbte?</p><lb/>
            <p>Jch that ein&#x017F;tens bey einer &#x017F;olchen Gelegen-<lb/>
heit einer Ge&#x017F;ell&#x017F;chaft von etwa einem Dutzend<lb/>
Per&#x017F;onen, denen auf die Art ein Aergerniß gege-<lb/>
ben wurde, den Vor&#x017F;chlag &#x017F;ich zu entfernen, in-<lb/>
dem &#x017F;ie ja nothwendig ein&#x017F;ehen mu&#x0364;ßten, daß die<lb/>
Gemahlinn &#x017F;owohl als der Cavallier, no&#x0364;thig ha&#x0364;t-<lb/>
ten, allein zu &#x017F;eyn. Die&#x017F;er Vor&#x017F;chlag hatte an<lb/>
dem verliebten Paar &#x017F;eine Wirkung; und ich<lb/>
ward fu&#x0364;r den Verweis, den ich ihnen ihrer aus-<lb/>
gela&#x017F;&#x017F;enen Freyheit wegen gegeben hatte, mit gro-<lb/>
ßem Beyfall erhoben.</p><lb/>
            <p>Allein bey einer andern Gelegenheit von die-<lb/>
&#x017F;er Art handelte ich dem gemeinen Ruf von mir<lb/>
ein wenig mehr gema&#x0364;ß. Denn ich wagte es, ei-<lb/>
ne Braut in Ver&#x017F;uchung zu fu&#x0364;hren. Dazu<lb/>
wa&#x0364;re ich gewiß nicht drei&#x017F;t genug gewe&#x017F;en: wenn<lb/>
das unver&#x017F;cha&#x0364;mte und bloß leidende Verhalten,<lb/>
wom it &#x017F;ie ihres in &#x017F;ie vergafften Lieb&#x017F;ten o&#x0364;ffentli-<lb/>
che Ta&#x0364;ndeleyen annahm, und dabey mehr mit<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">Froh-</fw><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[4/0010] Haben wir beyde, Belford, nicht junge Wei- ber geſehn, die man haͤtte fuͤr beſcheiden halten ſollen, und die auch in ihrem ledigen Stande wahnwitzig ſchuͤchtern waren? Haben wir nicht geſehn, wie eben dieſe ihren loͤffelnden Maͤnnern oͤffentlich Freyheiten verſtatteten, die genugſam bewieſen, daß ſie die Pflichten der Klugheit oder des Wohlſtandes vergeſſen haͤtten: da unterdeſ- ſen alle beſcheidne Augen ſich vor der unverſchaͤm- ten Dreiſtigkeit zuſchloſſen, und ein jedes beſcheid- nes Angeſicht fuͤr jene, die nicht erroͤthen konn- ten; ſich uͤber und uͤber vor Schaam verfaͤrbte? Jch that einſtens bey einer ſolchen Gelegen- heit einer Geſellſchaft von etwa einem Dutzend Perſonen, denen auf die Art ein Aergerniß gege- ben wurde, den Vorſchlag ſich zu entfernen, in- dem ſie ja nothwendig einſehen muͤßten, daß die Gemahlinn ſowohl als der Cavallier, noͤthig haͤt- ten, allein zu ſeyn. Dieſer Vorſchlag hatte an dem verliebten Paar ſeine Wirkung; und ich ward fuͤr den Verweis, den ich ihnen ihrer aus- gelaſſenen Freyheit wegen gegeben hatte, mit gro- ßem Beyfall erhoben. Allein bey einer andern Gelegenheit von die- ſer Art handelte ich dem gemeinen Ruf von mir ein wenig mehr gemaͤß. Denn ich wagte es, ei- ne Braut in Verſuchung zu fuͤhren. Dazu waͤre ich gewiß nicht dreiſt genug geweſen: wenn das unverſchaͤmte und bloß leidende Verhalten, wom it ſie ihres in ſie vergafften Liebſten oͤffentli- che Taͤndeleyen annahm, und dabey mehr mit Froh-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa05_1750
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa05_1750/10
Zitationshilfe: [Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 5. Göttingen, 1750, S. 4. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa05_1750/10>, abgerufen am 21.11.2024.