Haben wir beyde, Belford, nicht junge Wei- ber gesehn, die man hätte für bescheiden halten sollen, und die auch in ihrem ledigen Stande wahnwitzig schüchtern waren? Haben wir nicht gesehn, wie eben diese ihren löffelnden Männern öffentlich Freyheiten verstatteten, die genugsam bewiesen, daß sie die Pflichten der Klugheit oder des Wohlstandes vergessen hätten: da unterdes- sen alle bescheidne Augen sich vor der unverschäm- ten Dreistigkeit zuschlossen, und ein jedes bescheid- nes Angesicht für jene, die nicht erröthen konn- ten; sich über und über vor Schaam verfärbte?
Jch that einstens bey einer solchen Gelegen- heit einer Gesellschaft von etwa einem Dutzend Personen, denen auf die Art ein Aergerniß gege- ben wurde, den Vorschlag sich zu entfernen, in- dem sie ja nothwendig einsehen müßten, daß die Gemahlinn sowohl als der Cavallier, nöthig hät- ten, allein zu seyn. Dieser Vorschlag hatte an dem verliebten Paar seine Wirkung; und ich ward für den Verweis, den ich ihnen ihrer aus- gelassenen Freyheit wegen gegeben hatte, mit gro- ßem Beyfall erhoben.
Allein bey einer andern Gelegenheit von die- ser Art handelte ich dem gemeinen Ruf von mir ein wenig mehr gemäß. Denn ich wagte es, ei- ne Braut in Versuchung zu führen. Dazu wäre ich gewiß nicht dreist genug gewesen: wenn das unverschämte und bloß leidende Verhalten, wom it sie ihres in sie vergafften Liebsten öffentli- che Tändeleyen annahm, und dabey mehr mit
Froh-
Haben wir beyde, Belford, nicht junge Wei- ber geſehn, die man haͤtte fuͤr beſcheiden halten ſollen, und die auch in ihrem ledigen Stande wahnwitzig ſchuͤchtern waren? Haben wir nicht geſehn, wie eben dieſe ihren loͤffelnden Maͤnnern oͤffentlich Freyheiten verſtatteten, die genugſam bewieſen, daß ſie die Pflichten der Klugheit oder des Wohlſtandes vergeſſen haͤtten: da unterdeſ- ſen alle beſcheidne Augen ſich vor der unverſchaͤm- ten Dreiſtigkeit zuſchloſſen, und ein jedes beſcheid- nes Angeſicht fuͤr jene, die nicht erroͤthen konn- ten; ſich uͤber und uͤber vor Schaam verfaͤrbte?
Jch that einſtens bey einer ſolchen Gelegen- heit einer Geſellſchaft von etwa einem Dutzend Perſonen, denen auf die Art ein Aergerniß gege- ben wurde, den Vorſchlag ſich zu entfernen, in- dem ſie ja nothwendig einſehen muͤßten, daß die Gemahlinn ſowohl als der Cavallier, noͤthig haͤt- ten, allein zu ſeyn. Dieſer Vorſchlag hatte an dem verliebten Paar ſeine Wirkung; und ich ward fuͤr den Verweis, den ich ihnen ihrer aus- gelaſſenen Freyheit wegen gegeben hatte, mit gro- ßem Beyfall erhoben.
Allein bey einer andern Gelegenheit von die- ſer Art handelte ich dem gemeinen Ruf von mir ein wenig mehr gemaͤß. Denn ich wagte es, ei- ne Braut in Verſuchung zu fuͤhren. Dazu waͤre ich gewiß nicht dreiſt genug geweſen: wenn das unverſchaͤmte und bloß leidende Verhalten, wom it ſie ihres in ſie vergafften Liebſten oͤffentli- che Taͤndeleyen annahm, und dabey mehr mit
Froh-
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Haben wir beyde, Belford, nicht junge Wei-
ber geſehn, die man haͤtte fuͤr beſcheiden halten
ſollen, und die auch in ihrem ledigen Stande
wahnwitzig ſchuͤchtern waren? Haben wir nicht
geſehn, wie eben dieſe ihren loͤffelnden Maͤnnern
oͤffentlich Freyheiten verſtatteten, die genugſam
bewieſen, daß ſie die Pflichten der Klugheit oder
des Wohlſtandes vergeſſen haͤtten: da unterdeſ-
ſen alle beſcheidne Augen ſich vor der unverſchaͤm-
ten Dreiſtigkeit zuſchloſſen, und ein jedes beſcheid-
nes Angeſicht fuͤr jene, die nicht erroͤthen konn-
ten; ſich uͤber und uͤber vor Schaam verfaͤrbte?
Jch that einſtens bey einer ſolchen Gelegen-
heit einer Geſellſchaft von etwa einem Dutzend
Perſonen, denen auf die Art ein Aergerniß gege-
ben wurde, den Vorſchlag ſich zu entfernen, in-
dem ſie ja nothwendig einſehen muͤßten, daß die
Gemahlinn ſowohl als der Cavallier, noͤthig haͤt-
ten, allein zu ſeyn. Dieſer Vorſchlag hatte an
dem verliebten Paar ſeine Wirkung; und ich
ward fuͤr den Verweis, den ich ihnen ihrer aus-
gelaſſenen Freyheit wegen gegeben hatte, mit gro-
ßem Beyfall erhoben.
Allein bey einer andern Gelegenheit von die-
ſer Art handelte ich dem gemeinen Ruf von mir
ein wenig mehr gemaͤß. Denn ich wagte es, ei-
ne Braut in Verſuchung zu fuͤhren. Dazu
waͤre ich gewiß nicht dreiſt genug geweſen: wenn
das unverſchaͤmte und bloß leidende Verhalten,
wom it ſie ihres in ſie vergafften Liebſten oͤffentli-
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[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 5. Göttingen, 1750, S. 4. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa05_1750/10>, abgerufen am 21.11.2024.
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