Eigenschaften vollkommen verließ: so gestattete sie, daß ich meine Historie ohne Unterbrechung Personen vortrug, die in Ansehung ihrer eben so sehr, als in Ansehung meiner, Fremde waren; und von denen man, als von Fremden für beyde, vermuthen durfte, daß sie sich auf die Seite des am meisten beleidigten Theils lenken würden; und das war, wie ich die Sache spielte, eben auf meine Seite. Eine liebe einfältige Seele! dach- te ich damals, daß sie sich auf die Lauterkeit ih- res eignen Herzens verlässet: da man doch in das Herz nicht anders, als durch die äußerlichen Handlungen, sehen kann; und sie dem Ansehen nach ein Flüchtling, eine verlaufene Frau, ist, die einen zärtlichen und höchstgelinden Ehegat- ten verlassen hat! - - - Daß sie einzelnen Per- sonen eine gute Meynung von sich beyzubringen verabsäumet: da doch die ganze Welt durch das äußerliche Ansehen regieret wird!
Jedoch, was kann man von einem Engel un- ter zwanzig Jahren erwarten? - - Sie hat ei- ne Welt von Erkenntniß; von beschauender Erkenntniß, wenn ich so sagen mag: aber keine Erfahrung. Wie sollte sie diese bekommen ha- ben? Und eine Erkenntniß durch bloße allgemei- ne Lehrsätze, ist ein flatterndes ungewisses Licht: ein Jrrwisch, der das zweifelhafte Gemüth eben so oft verleitet, als auf den rechten Weg führet.
Es giebt viele Dinge in der Welt, könnte ein Sittenlehrer sagen, welche einem nachdenken- den Gemüthe unaussprechliches Vergnügen ge-
ben
Eigenſchaften vollkommen verließ: ſo geſtattete ſie, daß ich meine Hiſtorie ohne Unterbrechung Perſonen vortrug, die in Anſehung ihrer eben ſo ſehr, als in Anſehung meiner, Fremde waren; und von denen man, als von Fremden fuͤr beyde, vermuthen durfte, daß ſie ſich auf die Seite des am meiſten beleidigten Theils lenken wuͤrden; und das war, wie ich die Sache ſpielte, eben auf meine Seite. Eine liebe einfaͤltige Seele! dach- te ich damals, daß ſie ſich auf die Lauterkeit ih- res eignen Herzens verlaͤſſet: da man doch in das Herz nicht anders, als durch die aͤußerlichen Handlungen, ſehen kann; und ſie dem Anſehen nach ein Fluͤchtling, eine verlaufene Frau, iſt, die einen zaͤrtlichen und hoͤchſtgelinden Ehegat- ten verlaſſen hat! ‒ ‒ ‒ Daß ſie einzelnen Per- ſonen eine gute Meynung von ſich beyzubringen verabſaͤumet: da doch die ganze Welt durch das aͤußerliche Anſehen regieret wird!
Jedoch, was kann man von einem Engel un- ter zwanzig Jahren erwarten? ‒ ‒ Sie hat ei- ne Welt von Erkenntniß; von beſchauender Erkenntniß, wenn ich ſo ſagen mag: aber keine Erfahrung. Wie ſollte ſie dieſe bekommen ha- ben? Und eine Erkenntniß durch bloße allgemei- ne Lehrſaͤtze, iſt ein flatterndes ungewiſſes Licht: ein Jrrwiſch, der das zweifelhafte Gemuͤth eben ſo oft verleitet, als auf den rechten Weg fuͤhret.
Es giebt viele Dinge in der Welt, koͤnnte ein Sittenlehrer ſagen, welche einem nachdenken- den Gemuͤthe unausſprechliches Vergnuͤgen ge-
ben
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Eigenſchaften vollkommen verließ: ſo geſtattete
ſie, daß ich meine Hiſtorie ohne Unterbrechung
Perſonen vortrug, die in Anſehung ihrer eben ſo
ſehr, als in Anſehung meiner, Fremde waren;
und von denen man, als von Fremden fuͤr beyde,
vermuthen durfte, daß ſie ſich auf die Seite des
am meiſten beleidigten Theils lenken wuͤrden;
und das war, wie ich die Sache ſpielte, eben auf
meine Seite. Eine liebe einfaͤltige Seele! dach-
te ich damals, daß ſie ſich auf die Lauterkeit ih-
res eignen Herzens verlaͤſſet: da man doch in das
Herz nicht anders, als durch die aͤußerlichen
Handlungen, ſehen kann; und ſie dem Anſehen
nach ein Fluͤchtling, eine verlaufene Frau, iſt,
die einen zaͤrtlichen und hoͤchſtgelinden Ehegat-
ten verlaſſen hat! ‒ ‒ ‒ Daß ſie einzelnen Per-
ſonen eine gute Meynung von ſich beyzubringen
verabſaͤumet: da doch die ganze Welt durch das
aͤußerliche Anſehen regieret wird!
Jedoch, was kann man von einem Engel un-
ter zwanzig Jahren erwarten? ‒ ‒ Sie hat ei-
ne Welt von Erkenntniß; von beſchauender
Erkenntniß, wenn ich ſo ſagen mag: aber keine
Erfahrung. Wie ſollte ſie dieſe bekommen ha-
ben? Und eine Erkenntniß durch bloße allgemei-
ne Lehrſaͤtze, iſt ein flatterndes ungewiſſes Licht:
ein Jrrwiſch, der das zweifelhafte Gemuͤth eben
ſo oft verleitet, als auf den rechten Weg fuͤhret.
Es giebt viele Dinge in der Welt, koͤnnte
ein Sittenlehrer ſagen, welche einem nachdenken-
den Gemuͤthe unausſprechliches Vergnuͤgen ge-
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[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 5. Göttingen, 1750, S. 286. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa05_1750/292>, abgerufen am 24.11.2024.
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