Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 5. Göttingen, 1750.

Bild:
<< vorherige Seite


Jch saß auf einen Augenblick unschlüßig-
Bey meiner Seele, dachte ich, du bist vollkom-
men bewährt, ein Engel und kein Frauenzim-
mer! Dennoch umfaßte ich sie wieder und drückte
sie an meine Brust: nachdem ich sie von ihren
Knien aufgehoben hatte. Sie entwischte wie-
derum aus meinen Armen, und fiel auf dieselben
zurück. - - "Sehen sie, Herr Lovelace! - -
"Lieber Gott! daß ich das Leben behalten müssen,
"diese Stunde zu sehen und diese Begegnung zu
"erdulden! - - Sehen sie zu ihren Füßen ein
"armes Frauenzimmer, wie es ihr Erbarmen su-
"chet; ein Frauenzimmer, das um ihretwillen
"von aller Welt verlassen ist! Lassen sie meines
"Vaters Fluch nicht so erschrecklich wirken!
"Werden sie doch nicht der Vollzieher desselben,
"da sie die Ursache schon gewesen sind! sondern
"schonen sie mein! Jch bitte sie, schonen sie mein!
"- - Denn womit habe ich eine solche Begeg-
"nung von ihnen verdienet? - Um ihrer selbst
"willen, wo nicht um meinetwillen, und wie sie
"wollen, daß Gott der Allmächtige sich ihrer in
"ihrer letzten Stunde erbarme, schonen sie mein! - -

Was für ein Herz sollte hiedurch nicht er-
weichet seyn!

Jch wollte die fußfällige Schöne wieder von
ihren Knien aufgehoben haben: allein sie wollte
nicht aufgehoben seyn, bis mein besänftigtes Ge-
müthe, wie sie sagte, sie ihrer Bitte gewähret und
ihr befohlen hätte so aufzustehen, daß sie unbefle-
cket bliebe.

So


Jch ſaß auf einen Augenblick unſchluͤßig-
Bey meiner Seele, dachte ich, du biſt vollkom-
men bewaͤhrt, ein Engel und kein Frauenzim-
mer! Dennoch umfaßte ich ſie wieder und druͤckte
ſie an meine Bruſt: nachdem ich ſie von ihren
Knien aufgehoben hatte. Sie entwiſchte wie-
derum aus meinen Armen, und fiel auf dieſelben
zuruͤck. ‒ ‒ „Sehen ſie, Herr Lovelace! ‒ ‒
„Lieber Gott! daß ich das Leben behalten muͤſſen,
„dieſe Stunde zu ſehen und dieſe Begegnung zu
„erdulden! ‒ ‒ Sehen ſie zu ihren Fuͤßen ein
„armes Frauenzimmer, wie es ihr Erbarmen ſu-
„chet; ein Frauenzimmer, das um ihretwillen
„von aller Welt verlaſſen iſt! Laſſen ſie meines
„Vaters Fluch nicht ſo erſchrecklich wirken!
„Werden ſie doch nicht der Vollzieher deſſelben,
„da ſie die Urſache ſchon geweſen ſind! ſondern
„ſchonen ſie mein! Jch bitte ſie, ſchonen ſie mein!
„‒ ‒ Denn womit habe ich eine ſolche Begeg-
„nung von ihnen verdienet? ‒ Um ihrer ſelbſt
„willen, wo nicht um meinetwillen, und wie ſie
„wollen, daß Gott der Allmaͤchtige ſich ihrer in
„ihrer letzten Stunde erbarme, ſchonen ſie mein! ‒ ‒

Was fuͤr ein Herz ſollte hiedurch nicht er-
weichet ſeyn!

Jch wollte die fußfaͤllige Schoͤne wieder von
ihren Knien aufgehoben haben: allein ſie wollte
nicht aufgehoben ſeyn, bis mein beſaͤnftigtes Ge-
muͤthe, wie ſie ſagte, ſie ihrer Bitte gewaͤhret und
ihr befohlen haͤtte ſo aufzuſtehen, daß ſie unbefle-
cket bliebe.

So
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0086" n="80"/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
          <p>Jch &#x017F;aß auf einen Augenblick un&#x017F;chlu&#x0364;ßig-<lb/>
Bey meiner Seele, dachte ich, du bi&#x017F;t vollkom-<lb/>
men bewa&#x0364;hrt, ein Engel und kein Frauenzim-<lb/>
mer! Dennoch umfaßte ich &#x017F;ie wieder und dru&#x0364;ckte<lb/>
&#x017F;ie an meine Bru&#x017F;t: nachdem ich &#x017F;ie von ihren<lb/>
Knien aufgehoben hatte. Sie entwi&#x017F;chte wie-<lb/>
derum aus meinen Armen, und fiel auf die&#x017F;elben<lb/>
zuru&#x0364;ck. &#x2012; &#x2012; &#x201E;Sehen &#x017F;ie, Herr Lovelace! &#x2012; &#x2012;<lb/>
&#x201E;Lieber Gott! daß ich das Leben behalten mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en,<lb/>
&#x201E;die&#x017F;e Stunde zu &#x017F;ehen und die&#x017F;e Begegnung zu<lb/>
&#x201E;erdulden! &#x2012; &#x2012; Sehen &#x017F;ie zu ihren Fu&#x0364;ßen ein<lb/>
&#x201E;armes Frauenzimmer, wie es ihr Erbarmen &#x017F;u-<lb/>
&#x201E;chet; ein Frauenzimmer, das um ihretwillen<lb/>
&#x201E;von aller Welt verla&#x017F;&#x017F;en i&#x017F;t! La&#x017F;&#x017F;en &#x017F;ie meines<lb/>
&#x201E;Vaters Fluch nicht &#x017F;o er&#x017F;chrecklich wirken!<lb/>
&#x201E;Werden &#x017F;ie doch nicht der Vollzieher de&#x017F;&#x017F;elben,<lb/>
&#x201E;da &#x017F;ie die Ur&#x017F;ache &#x017F;chon gewe&#x017F;en &#x017F;ind! &#x017F;ondern<lb/>
&#x201E;&#x017F;chonen &#x017F;ie mein! Jch bitte &#x017F;ie, &#x017F;chonen &#x017F;ie mein!<lb/>
&#x201E;&#x2012; &#x2012; Denn womit habe ich eine &#x017F;olche Begeg-<lb/>
&#x201E;nung von ihnen verdienet? &#x2012; Um ihrer &#x017F;elb&#x017F;t<lb/>
&#x201E;willen, wo nicht um meinetwillen, und wie &#x017F;ie<lb/>
&#x201E;wollen, daß Gott der Allma&#x0364;chtige &#x017F;ich ihrer in<lb/>
&#x201E;ihrer letzten Stunde erbarme, &#x017F;chonen &#x017F;ie mein! &#x2012; &#x2012;</p><lb/>
          <p>Was fu&#x0364;r ein Herz &#x017F;ollte hiedurch nicht er-<lb/>
weichet &#x017F;eyn!</p><lb/>
          <p>Jch wollte die fußfa&#x0364;llige Scho&#x0364;ne wieder von<lb/>
ihren Knien aufgehoben haben: allein &#x017F;ie wollte<lb/>
nicht aufgehoben &#x017F;eyn, bis mein be&#x017F;a&#x0364;nftigtes Ge-<lb/>
mu&#x0364;the, wie &#x017F;ie &#x017F;agte, &#x017F;ie ihrer Bitte gewa&#x0364;hret und<lb/>
ihr befohlen ha&#x0364;tte &#x017F;o aufzu&#x017F;tehen, daß &#x017F;ie unbefle-<lb/>
cket bliebe.</p><lb/>
          <fw place="bottom" type="catch">So</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[80/0086] Jch ſaß auf einen Augenblick unſchluͤßig- Bey meiner Seele, dachte ich, du biſt vollkom- men bewaͤhrt, ein Engel und kein Frauenzim- mer! Dennoch umfaßte ich ſie wieder und druͤckte ſie an meine Bruſt: nachdem ich ſie von ihren Knien aufgehoben hatte. Sie entwiſchte wie- derum aus meinen Armen, und fiel auf dieſelben zuruͤck. ‒ ‒ „Sehen ſie, Herr Lovelace! ‒ ‒ „Lieber Gott! daß ich das Leben behalten muͤſſen, „dieſe Stunde zu ſehen und dieſe Begegnung zu „erdulden! ‒ ‒ Sehen ſie zu ihren Fuͤßen ein „armes Frauenzimmer, wie es ihr Erbarmen ſu- „chet; ein Frauenzimmer, das um ihretwillen „von aller Welt verlaſſen iſt! Laſſen ſie meines „Vaters Fluch nicht ſo erſchrecklich wirken! „Werden ſie doch nicht der Vollzieher deſſelben, „da ſie die Urſache ſchon geweſen ſind! ſondern „ſchonen ſie mein! Jch bitte ſie, ſchonen ſie mein! „‒ ‒ Denn womit habe ich eine ſolche Begeg- „nung von ihnen verdienet? ‒ Um ihrer ſelbſt „willen, wo nicht um meinetwillen, und wie ſie „wollen, daß Gott der Allmaͤchtige ſich ihrer in „ihrer letzten Stunde erbarme, ſchonen ſie mein! ‒ ‒ Was fuͤr ein Herz ſollte hiedurch nicht er- weichet ſeyn! Jch wollte die fußfaͤllige Schoͤne wieder von ihren Knien aufgehoben haben: allein ſie wollte nicht aufgehoben ſeyn, bis mein beſaͤnftigtes Ge- muͤthe, wie ſie ſagte, ſie ihrer Bitte gewaͤhret und ihr befohlen haͤtte ſo aufzuſtehen, daß ſie unbefle- cket bliebe. So

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa05_1750
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa05_1750/86
Zitationshilfe: [Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 5. Göttingen, 1750, S. 80. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa05_1750/86>, abgerufen am 04.12.2024.