Jch saß auf einen Augenblick unschlüßig- Bey meiner Seele, dachte ich, du bist vollkom- men bewährt, ein Engel und kein Frauenzim- mer! Dennoch umfaßte ich sie wieder und drückte sie an meine Brust: nachdem ich sie von ihren Knien aufgehoben hatte. Sie entwischte wie- derum aus meinen Armen, und fiel auf dieselben zurück. - - "Sehen sie, Herr Lovelace! - - "Lieber Gott! daß ich das Leben behalten müssen, "diese Stunde zu sehen und diese Begegnung zu "erdulden! - - Sehen sie zu ihren Füßen ein "armes Frauenzimmer, wie es ihr Erbarmen su- "chet; ein Frauenzimmer, das um ihretwillen "von aller Welt verlassen ist! Lassen sie meines "Vaters Fluch nicht so erschrecklich wirken! "Werden sie doch nicht der Vollzieher desselben, "da sie die Ursache schon gewesen sind! sondern "schonen sie mein! Jch bitte sie, schonen sie mein! "- - Denn womit habe ich eine solche Begeg- "nung von ihnen verdienet? - Um ihrer selbst "willen, wo nicht um meinetwillen, und wie sie "wollen, daß Gott der Allmächtige sich ihrer in "ihrer letzten Stunde erbarme, schonen sie mein! - -
Was für ein Herz sollte hiedurch nicht er- weichet seyn!
Jch wollte die fußfällige Schöne wieder von ihren Knien aufgehoben haben: allein sie wollte nicht aufgehoben seyn, bis mein besänftigtes Ge- müthe, wie sie sagte, sie ihrer Bitte gewähret und ihr befohlen hätte so aufzustehen, daß sie unbefle- cket bliebe.
So
Jch ſaß auf einen Augenblick unſchluͤßig- Bey meiner Seele, dachte ich, du biſt vollkom- men bewaͤhrt, ein Engel und kein Frauenzim- mer! Dennoch umfaßte ich ſie wieder und druͤckte ſie an meine Bruſt: nachdem ich ſie von ihren Knien aufgehoben hatte. Sie entwiſchte wie- derum aus meinen Armen, und fiel auf dieſelben zuruͤck. ‒ ‒ „Sehen ſie, Herr Lovelace! ‒ ‒ „Lieber Gott! daß ich das Leben behalten muͤſſen, „dieſe Stunde zu ſehen und dieſe Begegnung zu „erdulden! ‒ ‒ Sehen ſie zu ihren Fuͤßen ein „armes Frauenzimmer, wie es ihr Erbarmen ſu- „chet; ein Frauenzimmer, das um ihretwillen „von aller Welt verlaſſen iſt! Laſſen ſie meines „Vaters Fluch nicht ſo erſchrecklich wirken! „Werden ſie doch nicht der Vollzieher deſſelben, „da ſie die Urſache ſchon geweſen ſind! ſondern „ſchonen ſie mein! Jch bitte ſie, ſchonen ſie mein! „‒ ‒ Denn womit habe ich eine ſolche Begeg- „nung von ihnen verdienet? ‒ Um ihrer ſelbſt „willen, wo nicht um meinetwillen, und wie ſie „wollen, daß Gott der Allmaͤchtige ſich ihrer in „ihrer letzten Stunde erbarme, ſchonen ſie mein! ‒ ‒
Was fuͤr ein Herz ſollte hiedurch nicht er- weichet ſeyn!
Jch wollte die fußfaͤllige Schoͤne wieder von ihren Knien aufgehoben haben: allein ſie wollte nicht aufgehoben ſeyn, bis mein beſaͤnftigtes Ge- muͤthe, wie ſie ſagte, ſie ihrer Bitte gewaͤhret und ihr befohlen haͤtte ſo aufzuſtehen, daß ſie unbefle- cket bliebe.
So
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><pbfacs="#f0086"n="80"/><milestonerendition="#hr"unit="section"/><lb/><p>Jch ſaß auf einen Augenblick unſchluͤßig-<lb/>
Bey meiner Seele, dachte ich, du biſt vollkom-<lb/>
men bewaͤhrt, ein Engel und kein Frauenzim-<lb/>
mer! Dennoch umfaßte ich ſie wieder und druͤckte<lb/>ſie an meine Bruſt: nachdem ich ſie von ihren<lb/>
Knien aufgehoben hatte. Sie entwiſchte wie-<lb/>
derum aus meinen Armen, und fiel auf dieſelben<lb/>
zuruͤck. ‒‒„Sehen ſie, Herr Lovelace! ‒‒<lb/>„Lieber Gott! daß ich das Leben behalten muͤſſen,<lb/>„dieſe Stunde zu ſehen und dieſe Begegnung zu<lb/>„erdulden! ‒‒ Sehen ſie zu ihren Fuͤßen ein<lb/>„armes Frauenzimmer, wie es ihr Erbarmen ſu-<lb/>„chet; ein Frauenzimmer, das um ihretwillen<lb/>„von aller Welt verlaſſen iſt! Laſſen ſie meines<lb/>„Vaters Fluch nicht ſo erſchrecklich wirken!<lb/>„Werden ſie doch nicht der Vollzieher deſſelben,<lb/>„da ſie die Urſache ſchon geweſen ſind! ſondern<lb/>„ſchonen ſie mein! Jch bitte ſie, ſchonen ſie mein!<lb/>„‒‒ Denn womit habe ich eine ſolche Begeg-<lb/>„nung von ihnen verdienet? ‒ Um ihrer ſelbſt<lb/>„willen, wo nicht um meinetwillen, und wie ſie<lb/>„wollen, daß Gott der Allmaͤchtige ſich ihrer in<lb/>„ihrer letzten Stunde erbarme, ſchonen ſie mein! ‒‒</p><lb/><p>Was fuͤr ein Herz ſollte hiedurch nicht er-<lb/>
weichet ſeyn!</p><lb/><p>Jch wollte die fußfaͤllige Schoͤne wieder von<lb/>
ihren Knien aufgehoben haben: allein ſie wollte<lb/>
nicht aufgehoben ſeyn, bis mein beſaͤnftigtes Ge-<lb/>
muͤthe, wie ſie ſagte, ſie ihrer Bitte gewaͤhret und<lb/>
ihr befohlen haͤtte ſo aufzuſtehen, daß ſie unbefle-<lb/>
cket bliebe.</p><lb/><fwplace="bottom"type="catch">So</fw><lb/></div></div></body></text></TEI>
[80/0086]
Jch ſaß auf einen Augenblick unſchluͤßig-
Bey meiner Seele, dachte ich, du biſt vollkom-
men bewaͤhrt, ein Engel und kein Frauenzim-
mer! Dennoch umfaßte ich ſie wieder und druͤckte
ſie an meine Bruſt: nachdem ich ſie von ihren
Knien aufgehoben hatte. Sie entwiſchte wie-
derum aus meinen Armen, und fiel auf dieſelben
zuruͤck. ‒ ‒ „Sehen ſie, Herr Lovelace! ‒ ‒
„Lieber Gott! daß ich das Leben behalten muͤſſen,
„dieſe Stunde zu ſehen und dieſe Begegnung zu
„erdulden! ‒ ‒ Sehen ſie zu ihren Fuͤßen ein
„armes Frauenzimmer, wie es ihr Erbarmen ſu-
„chet; ein Frauenzimmer, das um ihretwillen
„von aller Welt verlaſſen iſt! Laſſen ſie meines
„Vaters Fluch nicht ſo erſchrecklich wirken!
„Werden ſie doch nicht der Vollzieher deſſelben,
„da ſie die Urſache ſchon geweſen ſind! ſondern
„ſchonen ſie mein! Jch bitte ſie, ſchonen ſie mein!
„‒ ‒ Denn womit habe ich eine ſolche Begeg-
„nung von ihnen verdienet? ‒ Um ihrer ſelbſt
„willen, wo nicht um meinetwillen, und wie ſie
„wollen, daß Gott der Allmaͤchtige ſich ihrer in
„ihrer letzten Stunde erbarme, ſchonen ſie mein! ‒ ‒
Was fuͤr ein Herz ſollte hiedurch nicht er-
weichet ſeyn!
Jch wollte die fußfaͤllige Schoͤne wieder von
ihren Knien aufgehoben haben: allein ſie wollte
nicht aufgehoben ſeyn, bis mein beſaͤnftigtes Ge-
muͤthe, wie ſie ſagte, ſie ihrer Bitte gewaͤhret und
ihr befohlen haͤtte ſo aufzuſtehen, daß ſie unbefle-
cket bliebe.
So
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 5. Göttingen, 1750, S. 80. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa05_1750/86>, abgerufen am 04.12.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.