"um ihrer eignen Rettung willen. Mehr als "einmal sagte sie mir mit Recht, durch das Be- "wußtseyn ihrer Vorzüge angeflammet, daß ihre "Seele weit über die meinige erhoben wäre! - - "Verzeihen sie mir, wertheste Frauenzimmer, "wenn ich sage, daß ich so lange, bis ich diese "Fräulein kennen lernte, den Personen von dem "schönen Geschlecht eine Seele streitig machte: "weil sie, wie ich anzunehmen geneigt war, nur "zu vorübergehenden Absichten erschaffen wären. " - - Man kann sich nicht einbilden, auf was für "ungereimte Dinge Leute von ungebundenen "Grundsätzen verfallen, damit sie ihre freye Le- "bensart für sich selbst rechtfertigen, und sich ei- "ne Religion nach ihrem Sinne machen. Je- "doch bin ich in diesem Stücke nicht so vielen Feh- "lern unterworfen gewesen, als einige andere.
"Kein Wunder, daß eine so edelgesinnte "Person, als meine Clarissa, einen jeden aus- "gesonnenen Kunstgriff als eine gewisse Art der "Schande ansahe, die nicht zu vergeben wäre! "Kein Wunder, daß sie so leicht gegen den Mann, "den sie zu vorsetzlichen Verbrechen aufgelegt "hielte, einen Abscheu bekommen konnte: ob sie "ihn gleich vormals mit einem nicht ganz gleich- "gültigen Auge ansahe! - - Aber es ist auch "nicht zu verwundern; erlauben sie mir dieß an "der andern Seite zu sagen; daß der Mensch, "welcher es so schwer fand, der geringern Be- "leidigungen wegen, Vergebung zu erlangen, "und nicht die Gabe hatte, nachzulassen oder
"Reue
„um ihrer eignen Rettung willen. Mehr als „einmal ſagte ſie mir mit Recht, durch das Be- „wußtſeyn ihrer Vorzuͤge angeflammet, daß ihre „Seele weit uͤber die meinige erhoben waͤre! ‒ ‒ „Verzeihen ſie mir, wertheſte Frauenzimmer, „wenn ich ſage, daß ich ſo lange, bis ich dieſe „Fraͤulein kennen lernte, den Perſonen von dem „ſchoͤnen Geſchlecht eine Seele ſtreitig machte: „weil ſie, wie ich anzunehmen geneigt war, nur „zu voruͤbergehenden Abſichten erſchaffen waͤren. „ ‒ ‒ Man kann ſich nicht einbilden, auf was fuͤr „ungereimte Dinge Leute von ungebundenen „Grundſaͤtzen verfallen, damit ſie ihre freye Le- „bensart fuͤr ſich ſelbſt rechtfertigen, und ſich ei- „ne Religion nach ihrem Sinne machen. Je- „doch bin ich in dieſem Stuͤcke nicht ſo vielen Feh- „lern unterworfen geweſen, als einige andere.
„Kein Wunder, daß eine ſo edelgeſinnte „Perſon, als meine Clariſſa, einen jeden aus- „geſonnenen Kunſtgriff als eine gewiſſe Art der „Schande anſahe, die nicht zu vergeben waͤre! „Kein Wunder, daß ſie ſo leicht gegen den Mann, „den ſie zu vorſetzlichen Verbrechen aufgelegt „hielte, einen Abſcheu bekommen konnte: ob ſie „ihn gleich vormals mit einem nicht ganz gleich- „guͤltigen Auge anſahe! ‒ ‒ Aber es iſt auch „nicht zu verwundern; erlauben ſie mir dieß an „der andern Seite zu ſagen; daß der Menſch, „welcher es ſo ſchwer fand, der geringern Be- „leidigungen wegen, Vergebung zu erlangen, „und nicht die Gabe hatte, nachzulaſſen oder
„Reue
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„um ihrer eignen Rettung willen. Mehr als
„einmal ſagte ſie mir mit Recht, durch das Be-
„wußtſeyn ihrer Vorzuͤge angeflammet, daß ihre
„Seele weit uͤber die meinige erhoben waͤre! ‒ ‒
„Verzeihen ſie mir, wertheſte Frauenzimmer,
„wenn ich ſage, daß ich ſo lange, bis ich dieſe
„Fraͤulein kennen lernte, den Perſonen von dem
„ſchoͤnen Geſchlecht eine Seele ſtreitig machte:
„weil ſie, wie ich anzunehmen geneigt war, nur
„zu voruͤbergehenden Abſichten erſchaffen waͤren.
„ ‒ ‒ Man kann ſich nicht einbilden, auf was fuͤr
„ungereimte Dinge Leute von ungebundenen
„Grundſaͤtzen verfallen, damit ſie ihre freye Le-
„bensart fuͤr ſich ſelbſt rechtfertigen, und ſich ei-
„ne Religion nach ihrem Sinne machen. Je-
„doch bin ich in dieſem Stuͤcke nicht ſo vielen Feh-
„lern unterworfen geweſen, als einige andere.
„Kein Wunder, daß eine ſo edelgeſinnte
„Perſon, als meine Clariſſa, einen jeden aus-
„geſonnenen Kunſtgriff als eine gewiſſe Art der
„Schande anſahe, die nicht zu vergeben waͤre!
„Kein Wunder, daß ſie ſo leicht gegen den Mann,
„den ſie zu vorſetzlichen Verbrechen aufgelegt
„hielte, einen Abſcheu bekommen konnte: ob ſie
„ihn gleich vormals mit einem nicht ganz gleich-
„guͤltigen Auge anſahe! ‒ ‒ Aber es iſt auch
„nicht zu verwundern; erlauben ſie mir dieß an
„der andern Seite zu ſagen; daß der Menſch,
„welcher es ſo ſchwer fand, der geringern Be-
„leidigungen wegen, Vergebung zu erlangen,
„und nicht die Gabe hatte, nachzulaſſen oder
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[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 6. Göttingen, 1750, S. 226. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa06_1750/232>, abgerufen am 24.11.2024.
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