solche Laster für so geringe halten könnte, die sie mit Recht für so unverzeichlich ansehen, wenn sie an ihren nähesten Verwandten unseres Geschlechtes verübet werden: - - da sie dieselben doch nicht begehen können, ohne andere Familien und Per- sonen mit solcher Beleidigung zu kränken, die sie sich bis auf den Tod zu rächen verbunden achten, so bald sie ihren eignen Familien widerfähret.
Allein wir Frauenzimmer verdienen nur allzu oft in diesem Stücke getadelt zu werden: indem auch die Tugendhaftesten unter uns selten die Tu- gend zum Grunde ihres Wohlgefallens an dem andern Geschlechte machen; so daß eine Manns- person sich so gar vor den Augen unstreitig tugend- hafter Frauenzimmer mit dieser Art der Bosheit rühmen mag, ohne deswegen verworfen zu werden. Daher kommt es, daß ein Freund der so genann- ten freyen Lebensart es selten für sich nöthig ach- tet, nur einmal den äußerlichen Wohlstand zu be- obachten: und wie vieles muß unser Geschlecht nicht durch die Meynungen, welche sie desfalls von uns hegen, in eben dieser Betrachtung leiden? Ja, was habe ich, mehr als viele andere, in den Augen der Welt, in eben dem Stücke, zu verant- worten?
Möchte doch meine Geschichte allen zu einer Warnung dienen, wie sie einen Freydenker in der Lebensart einem Manne, der auf wahre Ehre hält, vorziehen, und wie sie sich selbst durch die schein- bare, aber doch thörichte, Hoffnung, eingewurzel- te Gewohnheiten zu unterdrücken, und, so zu sagen,
die
ſolche Laſter fuͤr ſo geringe halten koͤnnte, die ſie mit Recht fuͤr ſo unverzeichlich anſehen, wenn ſie an ihren naͤheſten Verwandten unſeres Geſchlechtes veruͤbet werden: ‒ ‒ da ſie dieſelben doch nicht begehen koͤnnen, ohne andere Familien und Per- ſonen mit ſolcher Beleidigung zu kraͤnken, die ſie ſich bis auf den Tod zu raͤchen verbunden achten, ſo bald ſie ihren eignen Familien widerfaͤhret.
Allein wir Frauenzimmer verdienen nur allzu oft in dieſem Stuͤcke getadelt zu werden: indem auch die Tugendhafteſten unter uns ſelten die Tu- gend zum Grunde ihres Wohlgefallens an dem andern Geſchlechte machen; ſo daß eine Manns- perſon ſich ſo gar vor den Augen unſtreitig tugend- hafter Frauenzimmer mit dieſer Art der Bosheit ruͤhmen mag, ohne deswegen verworfen zu werden. Daher kommt es, daß ein Freund der ſo genann- ten freyen Lebensart es ſelten fuͤr ſich noͤthig ach- tet, nur einmal den aͤußerlichen Wohlſtand zu be- obachten: und wie vieles muß unſer Geſchlecht nicht durch die Meynungen, welche ſie desfalls von uns hegen, in eben dieſer Betrachtung leiden? Ja, was habe ich, mehr als viele andere, in den Augen der Welt, in eben dem Stuͤcke, zu verant- worten?
Moͤchte doch meine Geſchichte allen zu einer Warnung dienen, wie ſie einen Freydenker in der Lebensart einem Manne, der auf wahre Ehre haͤlt, vorziehen, und wie ſie ſich ſelbſt durch die ſchein- bare, aber doch thoͤrichte, Hoffnung, eingewurzel- te Gewohnheiten zu unterdruͤcken, und, ſo zu ſagen,
die
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ſolche Laſter fuͤr ſo geringe halten koͤnnte, die ſie
mit Recht fuͤr ſo unverzeichlich anſehen, wenn ſie
an ihren naͤheſten Verwandten unſeres Geſchlechtes
veruͤbet werden: ‒ ‒ da ſie dieſelben doch nicht
begehen koͤnnen, ohne andere Familien und Per-
ſonen mit ſolcher Beleidigung zu kraͤnken, die ſie
ſich bis auf den Tod zu raͤchen verbunden achten,
ſo bald ſie ihren eignen Familien widerfaͤhret.
Allein wir Frauenzimmer verdienen nur allzu
oft in dieſem Stuͤcke getadelt zu werden: indem
auch die Tugendhafteſten unter uns ſelten die Tu-
gend zum Grunde ihres Wohlgefallens an dem
andern Geſchlechte machen; ſo daß eine Manns-
perſon ſich ſo gar vor den Augen unſtreitig tugend-
hafter Frauenzimmer mit dieſer Art der Bosheit
ruͤhmen mag, ohne deswegen verworfen zu werden.
Daher kommt es, daß ein Freund der ſo genann-
ten freyen Lebensart es ſelten fuͤr ſich noͤthig ach-
tet, nur einmal den aͤußerlichen Wohlſtand zu be-
obachten: und wie vieles muß unſer Geſchlecht
nicht durch die Meynungen, welche ſie desfalls
von uns hegen, in eben dieſer Betrachtung leiden?
Ja, was habe ich, mehr als viele andere, in den
Augen der Welt, in eben dem Stuͤcke, zu verant-
worten?
Moͤchte doch meine Geſchichte allen zu einer
Warnung dienen, wie ſie einen Freydenker in der
Lebensart einem Manne, der auf wahre Ehre haͤlt,
vorziehen, und wie ſie ſich ſelbſt durch die ſchein-
bare, aber doch thoͤrichte, Hoffnung, eingewurzel-
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[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 7. Göttingen, 1751, S. 318. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa07_1751/324>, abgerufen am 22.11.2024.
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