Jhre Fr. Mutter führte mich in ihre Kam- mer. Da saßen wir einige Zeit und weinten mit einander, ohne daß eine von uns im Stande war, ein Wort mit der andern zu sprechen. Zuletzt unterbrach sie das Stillschweigen, und fragte mich, ob Sie wirklich so krank wären, als man sagte?
Jch antwortete ja, und wollte ihr ihren letz- ten Brief zeigen: allein sie lehnte es von sich ab.
Jch hätte Jhnen gern bey ihr die Gewogen- heit ausgewirket, daß sie eine Zeile mit ihrem Se- gen an Sie geschrieben hätte. Jch fragte, was Jhr Bruder und Jhre Schwester für Absichten hegten? Ob sie beyde mit nichts, als mit Jhrer gänzlichen Verstoßung zufrieden seyn wollten? - - Jch gab von weitem zu verstehen, wie es seyn wür- de, wenn Sie sich nicht von Jhrem Gehorsam und von Jhrer Demuth leiten ließen, sich in Ansehung der äußerlichen Umstände aller fremden Gewalt gänzlich zu entziehen: Sie forderten aber nichts mehr als einen Segen, einen letzten Segen. Und noch viele andere Dinge stellte ich zu Jhrem Vor- theil auf das nachdrücklichste vor. Die folgende kurze Wiederhohlung dessen, was ihr auf meine Vorstellungen zu antworten beliebte, wird Jhnen von allen, und auch von der gegenwärtigen Be- schaffenheit der Sachen, eine Kundschaft geben.
Sie sagte, "sie wäre sehr unglücklich! Sie "hätte durch eines Kindes Fehler, das wenige An- "sehen, das sie sonst über die andern Kinder ge- "habt, und allen Einfluß über den Herrn Harlowe "und seine Brüder verlohren. Jhr Herr Vater
"hätte
Jhre Fr. Mutter fuͤhrte mich in ihre Kam- mer. Da ſaßen wir einige Zeit und weinten mit einander, ohne daß eine von uns im Stande war, ein Wort mit der andern zu ſprechen. Zuletzt unterbrach ſie das Stillſchweigen, und fragte mich, ob Sie wirklich ſo krank waͤren, als man ſagte?
Jch antwortete ja, und wollte ihr ihren letz- ten Brief zeigen: allein ſie lehnte es von ſich ab.
Jch haͤtte Jhnen gern bey ihr die Gewogen- heit ausgewirket, daß ſie eine Zeile mit ihrem Se- gen an Sie geſchrieben haͤtte. Jch fragte, was Jhr Bruder und Jhre Schweſter fuͤr Abſichten hegten? Ob ſie beyde mit nichts, als mit Jhrer gaͤnzlichen Verſtoßung zufrieden ſeyn wollten? ‒ ‒ Jch gab von weitem zu verſtehen, wie es ſeyn wuͤr- de, wenn Sie ſich nicht von Jhrem Gehorſam und von Jhrer Demuth leiten ließen, ſich in Anſehung der aͤußerlichen Umſtaͤnde aller fremden Gewalt gaͤnzlich zu entziehen: Sie forderten aber nichts mehr als einen Segen, einen letzten Segen. Und noch viele andere Dinge ſtellte ich zu Jhrem Vor- theil auf das nachdruͤcklichſte vor. Die folgende kurze Wiederhohlung deſſen, was ihr auf meine Vorſtellungen zu antworten beliebte, wird Jhnen von allen, und auch von der gegenwaͤrtigen Be- ſchaffenheit der Sachen, eine Kundſchaft geben.
Sie ſagte, „ſie waͤre ſehr ungluͤcklich! Sie „haͤtte durch eines Kindes Fehler, das wenige An- „ſehen, das ſie ſonſt uͤber die andern Kinder ge- „habt, und allen Einfluß uͤber den Herrn Harlowe „und ſeine Bruͤder verlohren. Jhr Herr Vater
„haͤtte
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><pbfacs="#f0346"n="340"/><milestonerendition="#hr"unit="section"/><lb/><p>Jhre Fr. Mutter fuͤhrte mich in ihre Kam-<lb/>
mer. Da ſaßen wir einige Zeit und weinten mit<lb/>
einander, ohne daß eine von uns im Stande war,<lb/>
ein Wort mit der andern zu ſprechen. Zuletzt<lb/>
unterbrach ſie das Stillſchweigen, und fragte mich,<lb/>
ob Sie wirklich ſo krank waͤren, als man ſagte?</p><lb/><p>Jch antwortete ja, und wollte ihr ihren letz-<lb/>
ten Brief zeigen: allein ſie lehnte es von ſich ab.</p><lb/><p>Jch haͤtte Jhnen gern bey ihr die Gewogen-<lb/>
heit ausgewirket, daß ſie eine Zeile mit ihrem Se-<lb/>
gen an Sie geſchrieben haͤtte. Jch fragte, was<lb/>
Jhr Bruder und Jhre Schweſter fuͤr <hirendition="#fr">Abſichten<lb/>
hegten?</hi> Ob ſie beyde mit nichts, als mit Jhrer<lb/>
gaͤnzlichen Verſtoßung zufrieden ſeyn wollten? ‒‒<lb/>
Jch gab von weitem zu verſtehen, wie es ſeyn wuͤr-<lb/>
de, wenn Sie ſich nicht von Jhrem Gehorſam und<lb/>
von Jhrer Demuth leiten ließen, ſich in Anſehung<lb/>
der aͤußerlichen Umſtaͤnde aller fremden Gewalt<lb/>
gaͤnzlich zu entziehen: Sie forderten aber nichts<lb/>
mehr als einen Segen, einen <hirendition="#fr">letzten</hi> Segen. Und<lb/>
noch viele andere Dinge ſtellte ich zu Jhrem Vor-<lb/>
theil auf das nachdruͤcklichſte vor. Die folgende<lb/>
kurze Wiederhohlung deſſen, was ihr auf meine<lb/>
Vorſtellungen zu antworten beliebte, wird Jhnen<lb/>
von allen, und auch von der gegenwaͤrtigen Be-<lb/>ſchaffenheit der Sachen, eine Kundſchaft geben.</p><lb/><p>Sie ſagte, „ſie waͤre ſehr ungluͤcklich! Sie<lb/>„haͤtte durch eines Kindes Fehler, das wenige An-<lb/>„ſehen, das ſie ſonſt uͤber die andern Kinder ge-<lb/>„habt, und allen Einfluß uͤber den Herrn Harlowe<lb/>„und ſeine Bruͤder verlohren. Jhr Herr Vater<lb/><fwplace="bottom"type="catch">„haͤtte</fw><lb/></p></div></div></div></body></text></TEI>
[340/0346]
Jhre Fr. Mutter fuͤhrte mich in ihre Kam-
mer. Da ſaßen wir einige Zeit und weinten mit
einander, ohne daß eine von uns im Stande war,
ein Wort mit der andern zu ſprechen. Zuletzt
unterbrach ſie das Stillſchweigen, und fragte mich,
ob Sie wirklich ſo krank waͤren, als man ſagte?
Jch antwortete ja, und wollte ihr ihren letz-
ten Brief zeigen: allein ſie lehnte es von ſich ab.
Jch haͤtte Jhnen gern bey ihr die Gewogen-
heit ausgewirket, daß ſie eine Zeile mit ihrem Se-
gen an Sie geſchrieben haͤtte. Jch fragte, was
Jhr Bruder und Jhre Schweſter fuͤr Abſichten
hegten? Ob ſie beyde mit nichts, als mit Jhrer
gaͤnzlichen Verſtoßung zufrieden ſeyn wollten? ‒ ‒
Jch gab von weitem zu verſtehen, wie es ſeyn wuͤr-
de, wenn Sie ſich nicht von Jhrem Gehorſam und
von Jhrer Demuth leiten ließen, ſich in Anſehung
der aͤußerlichen Umſtaͤnde aller fremden Gewalt
gaͤnzlich zu entziehen: Sie forderten aber nichts
mehr als einen Segen, einen letzten Segen. Und
noch viele andere Dinge ſtellte ich zu Jhrem Vor-
theil auf das nachdruͤcklichſte vor. Die folgende
kurze Wiederhohlung deſſen, was ihr auf meine
Vorſtellungen zu antworten beliebte, wird Jhnen
von allen, und auch von der gegenwaͤrtigen Be-
ſchaffenheit der Sachen, eine Kundſchaft geben.
Sie ſagte, „ſie waͤre ſehr ungluͤcklich! Sie
„haͤtte durch eines Kindes Fehler, das wenige An-
„ſehen, das ſie ſonſt uͤber die andern Kinder ge-
„habt, und allen Einfluß uͤber den Herrn Harlowe
„und ſeine Bruͤder verlohren. Jhr Herr Vater
„haͤtte
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 7. Göttingen, 1751, S. 340. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa07_1751/346>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.