Jhr ungütiger, ihr grausamer Bruder! - - Wie wenig schwesterlich! - - Die arme liebe Frau! womit sie von Fr. Norton zu sprechen schien. - - Jhr gütiger Vetter! - - O was sind das für hitzige Köpfe! - - Und darauf machte sie sich mehr als einmal harte Vorwürfe - - O wie weit erstrecket sich mein Verge- hen! - - Zu was für Uebeln habe ich Gelegen- heit gegeben.
Da ich zu ihr gelassen wurde, sagte sie: Jch ha- be einen langen und nicht sehr angenehmen Brief von meiner lieben Fr. Norton bekommen; er wird bald in ihren Händen seyn. Es wird mir widerrathen, ihnen das Amt, welches sie so gütig übernommen haben, aufzutragen: allein sie müs- sen über nichts von solchen Dingen unwillig werden. Meine Wahl wird in ihrer aller Augen ein seltsa- mes Ansehen haben: aber es ist nunmehr zu spät, sie zu ändern, wenn ich auch wollte.
Jch wollte gern eine Antwort darauf schrei- ben, fuhr sie fort: allein ich habe kein klares Gesicht, Herr Belford, keine Festigkeit in den Fingern. - - Diese Benebelung wird jedoch viel- leicht bald vorübergehen. - - Hierauf wandte sie sich zu der Fr. Lovick: Jch denke nicht, daß ich schon eine sterbende Person bin - - Jch bin noch nicht eine wirklich sterbende Person, Fr. Lovick - - Denn ich habe keine leibliche Schmerzen - - keine Erstarrungen, keine Zeichen eines unmittel- bar bevorstehenden Todes, wie ich denke - - und mein Athem, der die letzte Zeit über so kurz zu
seyn
Jhr unguͤtiger, ihr grauſamer Bruder! ‒ ‒ Wie wenig ſchweſterlich! ‒ ‒ Die arme liebe Frau! womit ſie von Fr. Norton zu ſprechen ſchien. ‒ ‒ Jhr guͤtiger Vetter! ‒ ‒ O was ſind das fuͤr hitzige Koͤpfe! ‒ ‒ Und darauf machte ſie ſich mehr als einmal harte Vorwuͤrfe ‒ ‒ O wie weit erſtrecket ſich mein Verge- hen! ‒ ‒ Zu was fuͤr Uebeln habe ich Gelegen- heit gegeben.
Da ich zu ihr gelaſſen wurde, ſagte ſie: Jch ha- be einen langen und nicht ſehr angenehmen Brief von meiner lieben Fr. Norton bekommen; er wird bald in ihren Haͤnden ſeyn. Es wird mir widerrathen, ihnen das Amt, welches ſie ſo guͤtig uͤbernommen haben, aufzutragen: allein ſie muͤſ- ſen uͤber nichts von ſolchen Dingen unwillig werden. Meine Wahl wird in ihrer aller Augen ein ſeltſa- mes Anſehen haben: aber es iſt nunmehr zu ſpaͤt, ſie zu aͤndern, wenn ich auch wollte.
Jch wollte gern eine Antwort darauf ſchrei- ben, fuhr ſie fort: allein ich habe kein klares Geſicht, Herr Belford, keine Feſtigkeit in den Fingern. ‒ ‒ Dieſe Benebelung wird jedoch viel- leicht bald voruͤbergehen. ‒ ‒ Hierauf wandte ſie ſich zu der Fr. Lovick: Jch denke nicht, daß ich ſchon eine ſterbende Perſon bin ‒ ‒ Jch bin noch nicht eine wirklich ſterbende Perſon, Fr. Lovick ‒ ‒ Denn ich habe keine leibliche Schmerzen ‒ ‒ keine Erſtarrungen, keine Zeichen eines unmittel- bar bevorſtehenden Todes, wie ich denke ‒ ‒ und mein Athem, der die letzte Zeit uͤber ſo kurz zu
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Jhr unguͤtiger, ihr grauſamer Bruder! ‒ ‒
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Frau! womit ſie von Fr. Norton zu ſprechen
ſchien. ‒ ‒ Jhr guͤtiger Vetter! ‒ ‒ O was
ſind das fuͤr hitzige Koͤpfe! ‒ ‒ Und darauf
machte ſie ſich mehr als einmal harte Vorwuͤrfe
‒ ‒ O wie weit erſtrecket ſich mein Verge-
hen! ‒ ‒ Zu was fuͤr Uebeln habe ich Gelegen-
heit gegeben.
Da ich zu ihr gelaſſen wurde, ſagte ſie: Jch ha-
be einen langen und nicht ſehr angenehmen Brief
von meiner lieben Fr. Norton bekommen; er
wird bald in ihren Haͤnden ſeyn. Es wird mir
widerrathen, ihnen das Amt, welches ſie ſo guͤtig
uͤbernommen haben, aufzutragen: allein ſie muͤſ-
ſen uͤber nichts von ſolchen Dingen unwillig werden.
Meine Wahl wird in ihrer aller Augen ein ſeltſa-
mes Anſehen haben: aber es iſt nunmehr zu ſpaͤt,
ſie zu aͤndern, wenn ich auch wollte.
Jch wollte gern eine Antwort darauf ſchrei-
ben, fuhr ſie fort: allein ich habe kein klares
Geſicht, Herr Belford, keine Feſtigkeit in den
Fingern. ‒ ‒ Dieſe Benebelung wird jedoch viel-
leicht bald voruͤbergehen. ‒ ‒ Hierauf wandte ſie
ſich zu der Fr. Lovick: Jch denke nicht, daß ich
ſchon eine ſterbende Perſon bin ‒ ‒ Jch bin noch
nicht eine wirklich ſterbende Perſon, Fr. Lovick
‒ ‒ Denn ich habe keine leibliche Schmerzen ‒ ‒
keine Erſtarrungen, keine Zeichen eines unmittel-
bar bevorſtehenden Todes, wie ich denke ‒ ‒ und
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[Richardson, Samuel]: Clarissa. Bd. 7. Göttingen, 1751, S. 350. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/richardson_clarissa07_1751/356>, abgerufen am 22.11.2024.
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